Es geht die Treppe runter auf die Haustür zu. Doch statt zu bremsen, und die Klinke in die Hand zu nehmen, fegt Erni mit beschwingtem Schritt herum, den Flur entlang und schnurstracks zum Herrenzimmer. Das Herrenzimmer ist das größte Zimmer im Haus. Hier wohnen Bert und Ernie und es ist absolute Tabuzone für Partygäste. Die Tür zum Herrenzimmer ist komplett mit Leopardenplüsch verkleidet. Legenden ranken sich um das, was hinter dieser Tür geschieht. Die vier Jungs wechseln großäugige, bedeutungsschwere Blicke. „So, hereinspaziert, nur nich so schüchtern“, winkt Ernie durch und schließt hinter sich den Raum. Voll enttäuschend eigentlich, finden die Buben in großen Denkblasen, als sie sich umsehen. Keine Folterbank aus Lack und Leder, kein Tandem-Gynäkologenstuhl, keine Doppel-Riesendildoschaukel. Okay, das gigantische Hochbett ist schon sau cool mit seinem Samtvorhang rundrum. Aber es ist eben cool, und nicht versaut. Das Herrenzimmer platzt vor Geräumigkeit schier aus allen Nähten. Allein das Bett ist so groß wie Tobis komplettes Zimmer, und da passen immerhin ein Bett, ein Schrank, ein Schreibtisch und eine Kommode rein. Aber im Herrenzimmer stehen außerdem eine Sitzecke für bestimmt zehn rotunde Hintern, eine Milchglasscheibe auf Ziegelsteinen, die als Couchtisch dient, ein Bartresen in Schachbrettdekor mit vier Hockern, so ein Medienmöbel, wo Glotze und Stereoanlage draufstehen, ein Wandschrank voller Langspielplatten, zwei Kleiderschränke und ein Frettchenkäfig, in dem eine ganze Frettchenfamilie im einen Teil wohnen und in den anderen Teil in Urlaub gehen kann. In der Sitzecke lümmeln lauter Gestalten, die man so vom Sehen kennt, deren Namen einem teils zwar geläufig sind, die aber zu cool oder zu ballaballa sind, um direkten Kontakt mit ihnen zu haben. Fiedel erkennt die eine Gruftitante aus der Schule, die sich manchmal Sicherheitsnadeln durch die Backe sticht und immer ne Ratte auf der Schulter oder unterm Pulli hat. Völlig durch, wahrscheinlich; aber heiß wie eine Claudia Schiffer der Nacht. Der Schnaggels ist da; ein schlacksiger Rocker-Typ, der angeblich mal was mit der Frau vom Bürgermeister hatte. Aber dann wäre der bestimmt nicht hier, denkt sich Tobi, weil der Ernie der Sohn vom Bürgermeister ist. Andererseits hat Ernies Oma ihm das Haus in der Bahnhofstraße vererbt und nicht ihrem Sohn, dem Bürgermeister, weshalb der angeblich nicht mehr mit Ernie spricht. Rowena ist da; die ist eh cool, weil sie die einzige Schwarze ist weit und breit. Die bekommt aber nix mit, weil sie die ganze Zeit mit dem Fischer am Rummachen ist. Den Fischer kennt man aus der Stadt vom Sehen, weil er Rastalocken bis zum Arsch hat und immer so indische Wickelröcke trägt. Und Antonella Larusso. Scha-wing! Aber die saugt auch an irgend so‘nem Typen rum. „Ihr habt euch ein Leckerli verdient, pflanzt euch“, sagt Ernie und geht hinter den Tresen. Ein falsches Wort, denken die vier Jungs, eine falsche Bewegung, und du bist für immer unten durch. Sie setzen sich hin, so lässig wie möglich, und sagen lieber gar nichts. „Und? Alles klar?“, fragt Bert. Bert sieht zwar gefährlich aus mit seinen schwarzen Zuckerwasser-Spikes und seiner Nietenlederjacke, ist aber eigentlich voll der liebe Typ. Und soweit die Jungs wissen, hat er nichts gegen sie. Trotzdem. Das Tribunal der Coolen scheint ganz Aug und Ohr. „Die vier Herzchen haben grad spontan das Wohnzimmer gerockt!“, ruft Ernie hinterm Tresen vor. „Echt? Groovy! Was spielt ihr’n so?“, fragt Bert. „Grunge natürlich“, sagt Marci wie zu irgendeinem Deppen auf der Straße. „Pff! Scheiß Deprimucke“, macht Bert. „Hätt ich mir ja denken können. Du siehst ja auch aus wie ne billige Kopie von Kurt Cobain.“ Marci ist überrumpelt, aber Miko schaltet: „Und du siehst aus wie ne schlechte Karikatur von Sid Vicious. Und Punk ist voll für’n Arsch.“ „Ach, weil du so ne große Ahnung hast von Punk, du Mini-Möchtegern-James-Hetfield!“ „Der ganze No-Future-Scheiß is doch wirklich voll für die Tonne“, mischt sich Tobi ein. „Punks fühlen sich immer nur als Opfer. Oh, ich armer, immer werd ich unterdrückt von der Gesellschaft und von den Bullen und vom Staat. Da hab ich doch eh keine Chance. Und alles geht den Bach runter und ich kann sowieso nix dagegen machen. No Future for me. I fought the law and the law won. Ein Metler erkennt auch, dass die Gesellschaft und alles scheiße ist, aber er lässt sich davon nicht unterkriegen. Wer dumm kommt, kriegt aufs Maul. Fighting the world. Kill em all. Punk duckt sich nach unten weg, Metal steht über allem drüber. Und Grunge ist halt genau die richtige Mischung aus Punk-Selbstmitleid und Metal-Fickt-Euch-Alle-Arroganz.“ Das war Tobi vor einigen Wochen eingefallen. Er lag abends oft im Bett und hörte Musik. Egal, ob Metal, Punk oder Grunge, Hauptsache, es rockt. Er hörte immer ganz genau hin. Er hörte jedes Album so lange, bis er es auswendig kannte. Jedes Wort von jedem Lied. Er hatte ein Englisch-Wörterbuch von seiner Mutter. Das war aus den Sechzigern. Aber die meisten Worte, die er suchte, standen drin. Wenn er ein Album gut genug kannte, konnte er beim Hören darüber nachdenken, ohne sich auf die Worte konzentrieren zu müssen. Dann grübelte er über den Sinn der Worte, die Bedeutung der Lieder und der Klänge, über Musik und das Leben im Allgemeinen. Wenn er dabei zu einer Erkenntnis gelangte, konnte er gut einschlafen. Manchmal hielt er auch was fest in seinem Notizbüchlein. Meistens wusste er nicht, was er mit all dem anfangen sollte, was ihm so einfiel. Aber heute konnte er damit punkten. Er lehnt sich zufrieden zurück und genießt einen Siegerschluck. „Wow, ganz schön große Klappe, die Goofen“, sagt die Gruftitante. „Schon, oder?“, meint Bert. „Find ich gut.“ Tobi und Miko schauen sich an. Test bestanden. „Ich mag auch Punk. Aber nur California Skatepunk“, bekundet Fiedel, der sich bisher nur darauf konzentriert hatte, in möglichst kurzen Abständen an seinem Bier zu nippen, damit er nichts sagen musste. „Ja, Skatepunk is OK“, sagt Tobi. „Und WIZO geht auch“, sagt Miko. „Ja, stimmt WIZO sind auch witzig. Und Toy Dolls und Abstürzende Brieftauben“, bestätigt Fiedel. „Ja, die sind ober witzig“, sagt Marci. Ernie fummelt am Kassettendeck rum und bricht das Eis endgültig mit dem Play-Schalter. „-BLUT-BLUT-BLUT-KNOCHENMATSCHHIRNBREI“. Dann kommt er rüber und stellt Stamper, Salz, Tequila und halbierte Zitronenscheiben auf den Tisch. Alles klar, und zur Mitte, zur Titte, zum Sack, zack, zack! Zweite Runde, dritte Runde. Bert leckt sich das Salz von der Hand und wischt sie an Mikos Wange ab. „Wäh!“, macht Miko. „Stell dich nich so an!“, protestiert Bert, hält Mikos Kopf und leckt ihm einmal quer übers Gesicht. „Wäääh!“, macht Miko und wischt sich mit dem Ärmel ab. „Feigling“, provoziert Bert. Miko hält Berts Blick stand. Jetzt nur nicht klein beigeben. Aber er kann Bert ja jetzt nicht einfach eine scheuern. Oder? Scheiß drauf! Kein Rückzug! Keine Gnade! Miko geht zum Frontalangriff über, zieht Bert am Hinterkopf zu sich rüber und fängt an, ihn inniglich zu knutschen. Den Bandkollegen fällt die Kinnlade runter, der Rest jubelt frenetisch. „Okay, zehn Sekunden, miepmiepmiep“, sagt Ernie und zerrt Bert zu sich weg. „Wusst ich‘s doch, dass ne kleine Tucke in dir steckt“, grinst Bert. „Quatsch! Nu bild dir bloß nix ein, Kaktuslippe!“, triumphiert Miko. Während Tobis These wieder aufgegriffen wird, setzt sich die Gruftitante zwischen Tobi und Marci. „Du siehst wirklich aus wie ein kleiner Kurt.“ „Ich heiß Marci.“ „Kurt gefällt mir aber besser. Und dir doch auch. Ihr spielt also inner Band?“ „In der Tat, wir tun“, sagt Fiedel. „Und ich kenne dich aus der Schule. Mein Vater unterrichtet da Mathe und Chemie.“ „Mach Sachen. Und wer bist du?“ „Fridolin. Geiger. Aber meine Freunde nennen mich Fiedel.“ „Mach kein Scheiß, der Sohn vom Geiger? Dein Vater ist voll das Arschloch.“ „Ja, er kann schon ziemlich streng sein“, räumt Fiedel verdattert ein. „Er is ein Arschloch. Okay?“ „Okay. Ja. Manchmal schon. Vielleicht. Wie heißt du eigentlich?“ „Ach Namen sind doch Schall und Rauch“, zitiert die Gruftitante theatralisch. Sie zündet sich eine lange, dünne Zigarette an und bläst Fiedel Rauch ins Gesicht, bevor sie ihn ausblendet. „Wie heißt denn eure Band, kleiner Kurt?“ Marci überlegt kurz. „With the Lights Out“. „Cool. Gefällt mir. Und du spielst Gitarre und singst?“ „Nur Gitarre. Miko singt und Tobi.“ „Ja, das passt. Die mit ihren großen Klappen. Du bist mehr der geheimnisvolle Typ im Hintergrund, der Songwriter, das Hirn, hab ich recht?“ „Ja. Schon möglich.“ „Und ich spiele Schlagzeug“, wirft Fiedel ein. „Was du nich sagst. Wundert mich, dass du nicht Geige spielst, wo du doch Geiger heißt.“ Fiedel lacht gequält. „Ich geh mal schauen, was die Bar so hergibt“, entschuldigt er sich und steht auf. „Lydia heiß ich. Aber das muss ja nicht jeder wissen“, atmet sie Marci ins Ohr und umwogt ihn dabei mit einem schweren, erdigen Duft. Dann schaut sie ihn tief an aus dunklen, in samtiges Lila gebetteten Augen. Sie reden ein wenig über Herrn Geiger, das Arschloch. Und über die Sinnlosigkeit der Schule. Lydia will weg nächstes Jahr nach dem Abschluss. Nach Frankfurt oder Köln. Egal. Hauptsache weg. Vielleicht Psychologie studieren, oder Soziologie, oder Literatur. „Du erinnerst mich an mein Lieblingsgedicht von Rilke“, säuselt Lydia. „Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht. Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille – und hört im Herzen auf zu sein.“ Marci ist baff. Er trinkt sich einen Schluck Mut an und erklärt Lydia, warum das Leben ist wie ein Nirvana Song und warum es nur aus Refrains bestehen sollte. „Genauso isses!“, bestätigt Lydia, „Carpe diem! Komm, lass uns was Verrücktes machen!“ „Nee. Weiß nich“ meint Marci „Du bist süß“, raspelt Lydia. „Kommt mal her, ihr Rockstars!“, ruft sie und winkt Fiedel, der inzwischen mit Schnaggels am Tresen sitzt, Miko und Tobi ran. „Jede Band, aus der mal was werden soll, braucht was, was sie verbindet“, sagt sie. Sie füllt Tequila in ein Glas und versenkt darin vier schwarze Sicherheitsnadeln von ihrem Mantelkragen. „Ich spendier ne Runde Ohrschmuck.“ Irgendwas tief im Bauch sagt: schlechte Idee. Aber Bier und Tequila finden die Idee spitze – und sie sind in der Überzahl. Lydia trinkt das Glas aus und befördert die Nadeln mit der Zunge zwischen ihre schwarzen Lippen. Tobi meldet sich freiwillig als erster. Er hält Lydia sein linkes Ohr hin und keine fünf Sekunden später ist es durchbohrt. Sein Ohrläppchen wird heiß und beginnt zu pochen. Ist aber überhaupt nicht schlimm. Dann ist Miko dran. Lydia setzt an, Miko zieht im letzten Moment weg: „Hey! Ins linke Ohr!“, verlangt er mit Nachdruck. Ernie und Bert schmeißen sich weg. Lydia grinst und sticht zu. Fiedel murmelt unverständlich irgendwelche Bedenken und Risikowahrscheinlichkeiten in seinen nicht vorhandenen Bart, ist aber auch im Nu benadelt. Marci macht die Augen zu, weil er kein Blut sehen kann. Kann er ja eh nicht an seinem eigenen Ohrläppchen. Aber trotzdem. Sicher ist sicher. Eine Runde Tequila besiegelt das Ritual. Jetzt sind sie verbunden durch Blut und Schmerz. Und Sicherheitsnadeln. Da kann nichts mehr schief gehen. Aber irgendwie wird Marci doch etwas blass um die Nase. Lydia meint, er soll sich mal ein paar Minuten lang machen, dann wird das schon wieder. Sie bringt ihn ins obere Bett und bleibt besser mal bei ihm und passt auf ihn auf, bis er wieder auf dem Damm ist. Ober peinlich! „Ich habe doch gesagt, dass es Nerven gibt im Ohr. Wahrscheinlich hat sie einen getroffen“, diagnostiziert Fiedel. „Mein Loch brennt auch wie die Hölle.“ Alle schmeißen sich weg vor Lachen. „Was ist denn?“, fragt Fiedel. „Ach, apropos“, meint Ernie zu Tobi, „Tasche hat gemeint, dass es bei euch neulich gebrannt hat?“ Verdammte Axt, denkt Tobi. Muss denn das ganze verdammte Dorf Bescheid wissen? „Was? Ach so, ja, ein bisschen. Nix wildes. Der Weihnachtsbaum is abgefackelt. Irgendwer hat schlauerweise ne Rakete durch die Balkontür gefeuert. War aber wahrscheinlich keine Absicht. Und wir ham’s noch schnell genug gelöscht.“ „Aso ich glaub immer noch, dass es Absicht war“, widerspricht Miko. „Überleg doch ma, die Rakete muss ja durch die Hecke durch die Balkontür geflogen sein.“ „Quatsch! Die fliegen doch immer kreuz und quer! Außerdem macht sowas doch keiner!“ „Glaub ich auch nich“, sagt Bert. „In Frankfurt vielleicht. Oder Hannover. Aber hier? Briefkasten sprengen, OK, aber Brandanschläge kannste hier vergessen. Nach spätestens zwei Tagen wüsste eh das ganze Kaff, wer‘s war.“ Tobi hat keinen Bock auf die anschließende Spekulationsrunde. Er beschließt, einen Französischen zu machen, wendet vor, aufs Klo zu gehen und macht sich unbemerkt vom Acker. Die Nacht ist klar und bitterfaserkalt. Nur noch ein paar Wochen bis zum Konzert. Dann hat sich die Geschichte mit dem Feuer vielleicht auch endlich erledigt. Die ganze Sache geht ihm einfach nur auf den Sack.
Tobi spult im Kopf zurück. Er saß vor der Glotze. Mama lag bereits im Bett, obwohl es noch nicht mal acht war. Migräne. Daniel war noch beim Jugendgottesdienst. Der massakrierte Nordmann geriet unter Beschuss. Alle fünf Minuten flirrte eine Zigarettenkippe vom Esstisch her ins Wohnzimmer runter. Papas Art zu sagen, dass er genervt war. Jedes Mal stand Tobi auf und warf die Kippe in den Aschenbecher auf dem Wohnzimmertisch. Doch als es Bierflaschen zu hageln begann, zog er es vor, sich zurückzuziehen. Gerade war er die Treppe hoch, als es laut zu knistern anfing und ein gleißender Schein das Wohnzimmer erfüllte. Tobi überlegte eine Sekunde, dann war er mit zwei Sätzen die Treppe wieder herunter, fegte um die Ecke in die Diele, riss die Kellertür auf und den Feuerlöscher aus der Halterung. Er zog den Stift im Rennen raus und feuerte das puderfeine Pulver auf das Feuer bis der Löscher leer war. Ein paar Restflammen schlug er mit dem Hemd aus. Dann zog er seine Schuhe an und trat die letzte Glut aus. Als er sich umsah, bemerkte er seinen Vater, der mit einem Topf voll Wasser dastand wie bestellt und nicht abgeholt. „Überleg dir schommal, bei wem du wohnwills“, lallte er matt, „deine Mutter und ich wir lassnuns scheiden.“ „Schon wieder?“, entgegnete Tobi und kassierte eine Schelle für die gleichgültige Antwort. Er wusste nicht mehr genau, seit wann ihm Ohrfeigen nichts mehr ausmachten, aber er erinnerte sich noch daran, dass er ziemlich stolz war auf sich selbst, als die Tränen das erste Mal ausblieben. Von da an gab er sich keine Blöße mehr vor seinen Eltern. Papa machte die Balkontür auf und goss das Wasser auf den Rasen. Tobi stellte kommentarlos seine Schuhe vor die Tür und ging gelassen auf sein Zimmer. Er legte sich aufs Bett und rieb sich das Pochen aus der linken Wange. Dann hörte er wie Mama Papa anschrie. Tobi setzte sich die Kopfhörer auf und drückte Play.