Sommervogel

Sommervogel

Popf. Popf. Popf. Wie in Trance kämpfte sich Paul die Treppen hoch. Das verdammte Ding war im unmöglichsten aller Winkel gebaut. Selbst wenn man hinunterlief hatte man das Gefühl, es geht bergauf. Und hochzus quadrierte sich die Qual. Ächzend schloss er seine Wohnungstür auf. Es war ein regelrechter Kraftakt, den Riegel mit dem Schlüssel zu bewegen. Noch anstrengender war es, seine Füße mit den Zehenspitzen aus den noch geschnürten Schuhen zu hebeln. Kaum im Flur, gab Paul dem Gewicht seiner Umhängetasche nach. Seine Schulter neigte sich, der Riemen rutschte und die Tasche krachte ungebremst zu Boden. In der Küchenecke herrschte Chaos. Der Geschirrstapel, den sich Paul fürs Wochenende baute, war bereits heute Morgen beim Kaffeemachen kollabiert. Dabei war es erst Mittwoch. Egal. Auf dem Sofa lag ein Berg Klamotten. Dem Trockner hing auch noch eine halbe Ladung aus dem Maul. Überall Geschirr und Klamotten. Geschirr, Klamotten und Staub. Geschirr, Klamotten, Staub und zerfleddertes Papier voller totgelesener Buchstaben und bis zur Bedeutungslosigkeit betrachteter Bilder. Seufzen. Noch drei Schritte. Schwung nach hinten, hoch das Bein, Drehung und dann rücklings auf den Gipfel des Klamottenbergs. Schnaufen. Die Luft war schal wie wochenaltes, warmes Plastikflaschenwasser. Paul drückte sich die Handballen auf die Augen. Ganz ehrlich: Wenn dir schon morgens der Geschirrturm zusammenkracht, du dann zweimal die ganze Treppe nochmal rauf musst, weil du erst deinen Autoschlüssel und dann auch noch dein Mittagessen vergessen hast, wenn dir die Menschen auf der Straße gar keine andere Wahl lassen, als sie für absolute Arschgeigen zu halten und wenn du bei der Arbeit wiedermal feststellst, dass du die einzige Ameise in einem Termitenhaufen bist, dann bleibt dir gar nichts anderes übrig, als dir abends das Hirn zu befusseln. Aber der Kühlschrank schien so endlos weit entfernt. Sein Türwiderstand so unendlich hoch. Paul zog sein Handy aus der Hosentasche wie Arthur das Schwert aus dem Stein. „Hej paul hoffe dir gehts gut? Lass uns bald mal wieder was machen! Vllt ins shirleys am we? lg lele ;*“ Die Whatsapp kam schon mittags. Aber Paul hatte es nicht geschafft, zu antworten. Auch jetzt war er nicht dazu in der Lage. Es fiel ihm schlicht nichts ein. Er mochte Lele. Sogar sehr. Um ehrlich zu sein: er war verliebt in Lele. Und er war sich sogar ziemlich sicher, dass Lele auch in ihn verliebt war. Das war schön. Das war gut. Aber trotzdem schaffte er es nicht, zurückzuschreiben. Er hatte momentan weder die geistige Kapazität, etwas Angemessenes zu formulieren, noch konnte er realistisch einschätzen, ob er am Wochenende die Energie zum Weggehen haben würde. Paul überlegte kurz, ob ihn das ärgerte. Es ärgerte ihn nicht. Aber es machte ihn ein bisschen traurig. Und er schämte sich. Für seinen leeren Kopf. Für seinen Energiemangel. Für die unüberwindbaren Klamottenberge. Die unabwaschbaren Geschirrstapel. Den unbezwingbaren Staub. Das unsortierbare zerfledderte Papier, all das, was unüberbrückbar zwischen seiner Welt und Leles Welt stand. Und dann diese gottverdammte, vollumfängliche Müdigkeit! Als ob du bei 30 Grad in einem Neoprenanzug steckst, dessen Innenseite aus grobem Schleifpapier besteht. Dazu hast du so eine Bleiweste um, wie man sie beim Zahnarzt anlegen muss zum Röntgen. Ständig drückst du dir mit den Handballen die Augen noch tiefer in die Höhlen, reibst bis deine Lider wund sind. Diese grundlose, tiefgründige Müdigkeit. Du hast nicht den geringsten Anlass zur Beschwerde. Eigentlich ist alles gut. Aber alles ist auch irgendwie zu viel. All das Arbeiten, Weggehen, Treppenlaufen, Leutetreffen, Essenkochen, Zuhören, Geschirrwaschen, Reden, Wäschemachen, Fühlen, Staubsaugen, Nachdenken, Aufräumen, Wandanstarren, Nachrichtenschreiben. Aber andere bekommen das einfach so hin. Nur du bist so ein Waschlappen, dass du nicht mal die Basics im Leben auf die Kette kriegst, ohne dich vollkommen zu verausgaben. Und das macht dich mürbe und wütend. So, so wütend. Und dann wischst du Kaffeewasser weg und willst die Küchenrolle wieder hinstellen und das blöde Ding kippt um und fällt auf den Boden und rollt und rollt und hört nicht auf, sich fucking abzurollen und rollt durch die gesamte verfickte Küchenecke bis unter den verdammten Wohnzimmertisch und das macht dich wahnsinnig und du hebst das Scheißteil auf und pfefferst es mit voller Wucht zurück in die Küchenecke, wo es gegen die Wand dotzt, aber dann nicht einfach zu Boden geht, sondern im unwahrscheinlichsten aller Winkel abprallt, um den Geschirrstapel unter zahnschmelzerschütterndem Getöse zu Fall zu bringen. Paul streckte seinen Arm zur Seite weg und ließ das Handy aus seiner Hand in den Staub gleiten. Eine Weile starrte er die Decke an. Dann hievte er sein Bleigewicht vom Sofa als wäre er ein alter Mann. Er öffnete das Fenster und überwand den Widerstand der Kühlschranktür. Sein Körper nahm das Bier an ohne Gegenwehr. Manchmal kostete ihn selbst das Trinken Überwindung. Doch heute nicht. Und die Tapete bot ein angenehmes Programm an unaufdringlicher Unterhaltung. Paul stellte die leere Flasche nebens Sofa in den Pulk zu den anderen und trank eine weitere. Er kam selten dazu, die leeren Flaschen zurückzubringen. Nur neue Flaschen brachte er vom Einkauf mit, damit immer Bier im Kühlschrank war. Für Tage wie diesen zum Beispiel. Auch für den Fall, dass mal jemand zu Besuch kam. Aber meistens kam eh niemand. Eigentlich kam nie jemand. Zum Glück. Es war ja auch nie aufgeräumt. Oder selten. Wenn, dann Samstagabend – bis maximal Montagabend. Es war nicht so, dass Paul die Ordnung hasste. Vielmehr war es so, dass er gar nicht bemerkte, wie schnell die Unordnung überhandnahm. Deshalb versuchte er manchmal, am Samstag aufzuräumen. Lele war noch nie bei ihm gewesen. Bisher hatten sie sich immer auf neutralem Boden getroffen. Hach, Lele. Er hatte keine Ahnung, wie er es anstellen sollte und ob er überhaupt die Kraft für eine dauerhafte Beziehung hätte. Nach dem zweiten Bier fühlte sich Paul etwas zuversichtlicher. Deshalb holte er sich noch ein drittes. Vielleicht würde er danach in der Lage sein, Lele zu antworten. Als er sich wieder auf das Sofa fläzte, bemerkte er einen großen Falter an der Wand neben seinem Schreibtisch. Er war graubraun und nicht bunt wie ein Schmetterling. Niemand mag Nachtfalter, dachte Paul. Obwohl sie doch eigentlich auch Schmetterlinge sind. Nur halt ohne all die hübschen Farben. Sommervogel. So hatte Pauls Oma immer zu Schmetterlingen gesagt. Schönes Wort. Sommervogel. Für Oma war die Welt vollkommen in Ordnung, dachte Paul, alles hatte seinen Platz, da gab es auch gar keine Diskussion. Und ein Falter war entweder ein Sommervogel oder ein Nachtfalter. Und Nachtfalter wurden platt gemacht, wenn sie ins Haus kamen. „Also gut. Du kannst ja nichts dafür“, sagte Paul zum Falter an seiner Wand. Er leerte seine Flasche und quälte sich erneut vom Sofa hoch. Aus der Nähe betrachtet war der Falter viel dicker als ein Schmetterling, sein Torso war bedeckt mit strubbeligem Flaum und die Flügel sahen aus wie alte Putzlumpen. Paul musste sich eingestehen, dass er den Falter nicht besonders attraktiv fand und diese Kreatur auch nicht bei sich übernachten lassen wollte. Er nahm seinen Kaffeebecher vom Schreibtisch und schob seinen abgewrackten, lehnenlosen Bürostuhl näher an die Wand. Ganz langsam und vorsichtig stellte er sich auf die Sitzfläche. Dann suchte er den Schreibtisch ab. Mist. Viel Papier aber nichts, was zum Unterschieben geeignet war. Egal. Der Erfahrung nach krabbelten ungebetene Besucher sowieso in den Behälter. Also stülpte Paul einfach den Kaffeebecher über den Falter und bewegte ihn ein paar mal sachte hin und her. Er hob ihn etwas an, um durch den Spalt zu kontrollieren, ob der Falter in den Becher gekrabbelt war. Doch sobald der Spalt weit genug war, um etwas zu sehen, kam ihm der riesige Falter entgegengeflattert, genau auf sein Gesicht zu. Paul wich reflexartig aus, wodurch der Stuhl ins Rollen kam. Paul ruderte mit den Armen, wodurch sich die Sitzfläche drehte, was ihm schließlich die Beine wegzog. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er noch den Falter über sich hinwegflattern, dann krachte sein Schädel im ungünstigsten aller Winkel gegen seine Schreibtischkante.

Martin Brunner, 2020

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