Die Frequenz der Seele

Die Götter sind taub und blind. Sie hören nichts und sehen nichts. Deshalb schreien sie vor Wut und schlagen um sich mit gewaltigen Armen. Fen kauerte und machte sich ganz klein, damit der Zorn der Götter sie nicht traf. Mit jedem ihrer weiten Schläge pressten sie die Luft zu Donner, der sich abstieß in den Tiefen einer fernen Finsternis und anschwoll bis der Boden wankte. Sing! Fen! Sing!

 

„Fen!“ „JA! Was? Ja. Entschuldigung.“ „Hatten sie eine Vision, Fen?“ „Nein. Ich… nein. Ich habe nur so einen Quatsch geträumt. Das kennen sie bestimmt, wenn man unverhofft einnickt, träumt man die absurdesten Sachen. Ich konnte nicht effizient schlafen letzte Nacht.“ „Sie sprechen auch nicht effizient. Vielleicht sollten sie ihre Einstellung optimieren lassen. Es ist wichtig, dass wir die Performance unserer Antihalluzinogenika regelmäßig analysieren, das wissen sie doch, Fen.“ „Jaja, das weiß ich ja, Hem. Aber ich habe mich ja erst vor kurzem checken lassen. Ist alles in Ordnung. Wirklich, es war nur ein lebhafter Traum.“ „Nun, Träume sind die Vorboten von Visionen. Gateways zum ineffizienten Denken. Zudem bringen sie heute offenbar nicht die optimale Leistung. Regenerieren sie den Rest des Tages. Lassen sie sich einen Betawellenblocker geben.“ „Aber Hem…“ „Keine Widerrede, Fen. Ich sehe sie morgen beim Prozessmeeting.“ „Also gut.“ Fen deaktivierte den Neurolink.

 

Fen entfernte die Connectoren, massierte sich die Schläfen und stieg aus ihrer Programmierstation. Sie hatte die Nacht durchgearbeitet, ebenso wie die beiden Tage und Nächte davor. Sie war für die Photonensteuerung zuständig. 4.635.102.499.527.803 Nanobots schwebten in der Atmosphäre. Fen programmierte und optimierte Logarithmen anhand derer die Nanobots stets eine exakte Menge Sonnenstrahlung durchließen, damit Helligkeit und Temperatur auf der Erdoberfläche präzise den Anforderungen entsprachen. Durch Agitation der atmosphärischen Molekülstruktur schufen die Nanobots zudem ein Magnetfeld, das überschüssige Photonen in Direktenergie umwandelte. Die effiziente Versorgung des gesamten Planeten mit Wärme, Licht und Energie oblag ihrer Verantwortung. Doch das bereitete ihr keine schlaflosen Nächte. Es war das Raunen, das Fen beunruhigte. Sie hörte es seit dreizehn Tagen, vier Stunden und achtzehn Minuten. Zuerst nur leise wie die Pappeln sanft dem Wind Geheimnisse zuflüstern. Dann nahm es zu, wurde zum Sturm, der durch die tiefen Fluchten der Carbonstadt fegte und sich an den scharfen Kanten rieb. Vor drei Tagen dann erklang es wie das furchtbare Geräusch eines der prähistorischen Signalgeräte, die durch Atem angetrieben wurden, wie Trampeten oder Sackrofone, von denen Fen in der Akademie gehört hatte. Das war fast 400 Jahre her. Doch diese schrecklichen Geräusche hatte Fen niemals vergessen. Mit dem Raunen hatten ihre Träume angefangen. Eigentlich war es nur ein Traum. Er kehrte wieder jede Nacht. Von Wesen, die nicht sehen und nicht hören konnten, Wesen aus Metall, die Feuer atmeten und ein schwarzes Sekret absonderten. Wesen, die die Luft erzittern ließen und in Rage um sich schlugen. Und da waren Worte, doch sie wusste nicht, was das alles bedeutete. Sobald sich Fen connectete, war alles still. Deshalb hatte sie die letzten 48 Stunden durchgearbeitet. Fen war erschöpft. Das Raunen drang durch Mauern, Türen, Fenster und dann am dritten Tag sogar bis in den Common Space, der seine Nutzenden hermetisch isolierte von der Außenwelt. Es war nicht eingebildet, dessen war Fen sicher. Sonst wäre es von Anfang an im Commonplace präsent gewesen. Fen sah den Fischen zu in ihrem Holovarium. Nach einer Weile schaltete sie um auf Bienenstock. „Bienen sind ein wichtiger Bestandteil unseres Ökosystems, denn sie bestäuben die Blumen und die Bäume“, begann die Aufzeichnung einer Stimme zu erklären. Fen verstand kein Wort, doch es beruhigte sie. Das Holovarium war eine Antiquität, hunderte von Jahre alt, die Sprache war ein kruder, unverständlicher Dialekt. Doch Fen verstand die Bilder. Offenbar waren die schwarzbraunen behaarten Wesen eine Art Vorläufer der Microbots, die zur Bestäubung eingesetzt wurden. Was antike Biologie betraf, waren Fens Erinnerungen an die Ausbildung nicht optimal. Fen ging in die Reinigungsparzelle und stellte sich auf das Medipad. Ihre Daten waren unverändert. Ihr fehlte nichts und nichts war zu viel. Auch der Scan ihrer Gehirnströme war nicht alarmauslösend. Sie ließ sich dennoch einen Betawellenblocker induzieren. Sie absorbierte eine Dosis Nährstoff und begab sich in die Regenerationsparzelle.

 

Die Götter sind taub und blind. Sie hören nichts und sehen nichts. Deshalb schreien sie vor Wut und schlagen um sich mit gewaltigen Armen. Fen kauerte und machte sich ganz klein, damit der Zorn der Götter sie nicht traf. Mit jedem ihrer weiten Schläge pressten sie die Luft zu Donner, der sich abstieß in den Tiefen einer fernen Finsternis und anschwoll bis der Boden wankte. Sing! Wer ist Sing? Du musst singen, damit sie sich beruhigen. Was ist singen? Fen vernahm etwas. Es ähnelte der Aufnahme von ihrem Holovarium. Und doch klang es ganz anders, noch weniger gleichmäßig mit Längen und mit Pausen. Es war ganz eigenartig, aber auch auf eine Art seltsam vertraut.

 

Fen erwachte. Sie hatte wieder geträumt, trotz des Betawellenblockers. Oder waren es doch Visionen, wie Hem vermutet hatte? Visionen mussten stets sofort gemeldet werden. Wenn das Medipad bei der Gehirnstrommessung feststellte, dass Visionen vorlagen, schlug es automatisch Alarm. Es sind nur Träume, sagte sich Fen, nicht Visionen, nur harmlose Träume. Sonst hätte das Medipad es signalisiert.

 

Aber was war mit dem Raunen? Sie hatte herumgefragt; niemand sonst schien etwas Ungewöhnliches zu hören. Und es wurde immer schlimmer. Das Raunen war nun nicht mehr nur zu hören, es war zu spüren. Vibrationen drangen tief durch Fens Gewebe und sie fühlte sich als ob angeregte Nanobots durch ihre Blutgefäße strömten. Bestimmt war sie nur etwas überarbeitet. Es würde schon vorübergehen, dachte Fen. Ein paar Tage Ruhe und alles würde wieder gut sein. Doch heute konnte sie nicht ruhen. Sie musste los zum Prozessmeeting 800. Einmal pro Jahr kamen die Wachenden – es waren insgesamt 742 – zusammen, um Prozessberichte zu analysieren und Forschungsfelder zu besprechen.

 

Fen ließ sich reinigen, führte sich Nährstoff zu und stellte sich auf ihren Leapcoordinator. Augenblicklich fand sie sich im Effizienzzentrum des Shirley Ann Jackson Quadranten wieder. Sie tupfte sich mit einem Tuch das Leapgoo vom Körper, nahm sich eine Robe und legte sie an. Der gläserne Saal war hexagonal und verjüngte sich nach oben hin. Die Seitenkanten brachen das Licht in sanft leuchtende Spektralfarbenhologramme, dass es so aussah, als sei das Bauwerk nichts als ein gewaltiges Gerüst aus Farben oder ein schwereloser Regenbogenobelisk. Fen setzte sich neben Hen, ihre Prozesskoordinatorin. „Just in Time“, stellte Hen mit ihren scharfen blauen Augen fest. „Offenbar geht es dir besser?“ „Ja, alles einwandfrei“, bestätigte Fen. Auf dem Podium Stand Par, die älteste Programminstanz des Shirley Ann Jackson Quadranten und begann zu reden: „Liebe Wachende, dies ist unser 800. Prozessmeeting. Wie alle 100 Jahre wiederhole ich zunächst die Geschichte, damit sie uns nicht verloren geht. Denn wer keine Geschichte hat, hat keine Zukunft. Vor 800 Jahren ist die Menschheit zur Vernunft gekommen. Inmitten der langen politischen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen im Streit um Ressourcen, traf ein geheimes Gremium führender internationaler Wissenschaffenden eine Übereinkunft. Die menschliche Bevölkerung der Erde hatte sich zu stark entwickelt. Selbst die weltweiten Konflikte dezimierten nicht genug. Die Wirtschaftsmächte und politischen Gewalten waren zu borniert, um das Gesamtbild zu erkennen. Aber 241 Wissenschaffende arbeiteten gemeinsam, um das Fortbestehen der Menschheit noch zu sichern. Ihr Ziel war eine rationale Zäsur – eine Denkpause für die gesamte menschliche Rasse einzuleiten. Sie entwickelten den Commonplace. Das cyberneuronale Netzwerk, das ihnen Zugang zum kollektiven Unterbewusstsein erlaubte. Über Commonplace war es möglich, den Menschen Einsicht zu verschaffen. Sie schufen sich nach den Anweisungen, die sie über Commonplace erhielten Schlafkammern, die sie so lange konservieren würden, bis sich eine Möglichkeit für sie ergebe, umzusiedeln auf einen anderen Planeten oder sich auf Erden dem Gemeinwohl nützlich zu erweisen. 83,6 Prozent der Menschheit legten sich bereitwillig zum Schlafen in die Kammern. Das Zeitalter der Rationalität und Effizienz war damit angebrochen. Manche wurden dazu benannt, die Schläfer Tag und Nacht zu überwachen. Andere dazu, zu forschen. Die verdientesten unter ihnen wurden später zu Programminstanzen. Ihr Privileg und ihre Pflicht war es, die Effizienz in allen Teilbereichen dieser neuen rationalen Welt voranzutreiben. Innerhalb der ersten Dekade wurde die Regeneration entwickelt. So können wir, die Wachenden, Jahrhunderte am Leben bleiben und dabei die Effizienz unserer Aufgaben aufgrund unserer ins Unerschöpfliche wachsenden Erfahrungen immer weiter optimieren. Soweit zur Historie. Nun zu den Statistiken. Wir haben einen Effizienzschwankungskoeffizienten von 0,34157 Prozent. Das ist zu viel. Wir müssen“ Du kannst es hören, nicht wahr? Fen zuckte zusammen. Sie vernahm eine deutliche Stimme in ihrem Kopf. Jemand hatte sich mit ihr synchronisiert. Es ist mehr als eine Algorithmusstörung. Und wenn wir nichts unternehmen, wird der Effizienzschwankungskoeffizient die Leistungseinbrüche in den Steuerungsprozessen nicht mehr anzeigen müssen, weil wir zusehen können, wie alles in sich zusammenfällt. Alles, was wir gemeinsam aufgebaut haben über die letzten 800 Jahre. Sag mir, ob du es hören kannst. Fen versuchte sich nichts anmerken zu lassen. So unauffällig wie möglich sah sie sich um. Wer hatte sich mit ihr synchronisiert? Und wie? Sie war nicht geöffnet. Sage mir, ob du es hören kannst, Fen. Mit deinen eigenen Ohren? Auβerhalb des Commonspace? Fen zögerte. Es gab zwei Möglichkeiten: entweder wusste jemand von dem Raunen und könnte Fen womöglich helfen, oder es war eine Vision. Die einzige Möglichkeit, herauszufinden welche der Alternativen vorlag, war zu antworten. Ja. Ich kann es hören. Ah, das ist gut, das ist ausgezeichnet. Meine Koordinaten sind 24.33.05. Wir treffen uns bei mir nach dem Meeting. Fen konnte den weiteren Berichten des Prozessmeetings nicht folgen. Nach einer endlosen Folge von Statistiken entschuldigte sich Fen: Sie müsse Arbeit nachholen. Sie hatte sich die Koordinaten wieder und wieder in Gedanken vorgesagt. Sie tippte die Ziffern ins Panel als sei es ihre eigene Adresse. Eine graue Frau nahm Fen entgegen. Ihr Haar gelangte fast zum Boden, das grüne Strahlen ihrer Augen verlor sich in der Unendlichkeit ihrer Pupillen. „Sie sind Cindy“, staunte Fen, „eine der ersten 241, eine der Langnamigen. Aber sie sind nur ein Mythos. Von den Ersten ist niemand mehr geblieben. Niemand konnte die Jahre ertragen, die auf ihren Schultern lasteten.“ „Lenke bitte nicht vom Thema ab, Fen, dafür ist wirklich keine Zeit“, mahnte Cindy. Sie legte einen kargen Arm um Fen und führte sie an sich vorbei hinein. „Das Raunen das du hörst ist das vermeintliche Störsignal, das negativ mit unseren Algorithmen interferiert“, begann Cindy zu erklären. „Aber es ist mehr als eine Störung. Es ist eine Art Kommunikation, eine Nachricht oder mehrere. Ich konnte das Signal zwar isolieren, doch bisher nicht dechiffrieren. Zunächst dachte ich auch, es sei ein Störsignal. Doch es wandelte sich regelmäβig. Meine Identifikation ergab 376 ständig wiederkehrende Patterns. Es ist mit Sicherheit ein Communicationloop. Vielleicht ein Notsignal. Möglicherweise von einem anderen Planeten. Verstehst du, Fen, das könnte die Lösung sein, die wir seit 800 Jahren suchen. Es könnte eine Zivilisation sein, die versucht, mit uns Kontakt aufzunehmen. Es könnte endlich unsere Chance auf Umsiedlung sein.“ Fen verstand worum es Cindy ging. Sie verstand auch, dass sie keine Zeit verlieren durften. „Aber sie wissen nicht, woher das Signal kommt und sie brauchen mich, um es zu orten.“ „Exakt“, bestätigte Cindy. „Du bist die einzige, die das Signal physisch empfangen kann. Ich habe die Sendefrequenzen mit den Bandbreiten der Wachenden abgeglichen. Aber offenbar verstehst du die Nachricht auch nicht.“ „Nein“, entgegnete Fen. „Aber seit ich das Raunen höre, habe ich diese Träume. Da sind gigantische Wesen. Sie wirken alt. Mehr als das. Anachronistisch. Sie haben Gliedmaßen von enormer Reichweite und sie schlagen damit um sich. Ich höre eine Stimme, die sagt, dass es Götter sind, die zürnen und alles zerstören wollen, weil sie nichts hören und nichts sehen können.“ Fen beschrieb Cindy die Götter näher und Cindy nickte so als würde sie verstehen. „Diese Götter schlagen nach mir und ich muss mich ganz klein zusammenducken, damit sie mich nicht treffen und zermalmen“, fuhr Fen fort. „Und die Stimme sagt, ich muss singen, damit sich die Götter beruhigen.“ „Das ist es!“, rief Cindy aus. „Du musst singen!“ „Es besteht kein Zweifel, Fen, wir müssen die Koordinaten ermitteln und du augenblicklich dorthin leapen und singen.“ „Zu den Göttern? Fragte Fen etwas skeptisch.“ Sie wusste doch nicht, wie sie der Raserei der Traumwesen begegnen sollte. „Zu den Göttern?“, lenkte Cindy ein, „Das ist höchst unwahrscheinlich. Theismus war ein antikes Konzept, eine Theorie, die besagte, dass der Mensch sein Streben und Handeln nicht selbst lenkt. Albern wirklich. Vermutlich ist das ein Übertragungsfehler. Du sagst, die Götter muten metallurgisch an und sekrieren eine schwarze Flüssigkeit. Deine Beschreibung führt mich zu einem anderen Schluss. Es gab vor Urzeiten Arbeitsgeräte, die man Maschinen nannte. Sie funktionierten nach primitiven mechanischen Prinzipien, waren angetrieben durch Verbrennungsenergie, wobei die Reibung zwischen den verbundenen beweglichen Teilen durch Schmierstoffe reduziert wurde. Abrieb erfolgte dennoch, da die nötige Präzision damals nicht vorhanden war. Dadurch verfärbten sich die Schmierstoffe dunkel und traten durch Verdrängung aus. Das Signal greift offenbar auf die basalsten physikalischen Prinzipien zurück, da diese universell verständlich sind.

 

Fen sah einen Augenblick lang aus dem Fenster. Cindys Domizil befand sich offenbar am Stadtrand. Vor der Stadt lag wild und ungeordnet die Natur. Nur in Ausnahmefällen war es Menschen gestattet, die Natur zu betreten. Nur um Proben zu sammeln als Ausgangsstoffe für neue Synthesen. Zwischen Stadt und der Natur lagen die Gärten. Durch integrierten Anbau entstanden dort für die notwendigen Ausgangsstoffe für standardisierte Nährstoff- und Heilmittelsynthesen. Sie hatten so viel erreicht in 800 Jahren. Was würde daraus, wenn sie umsiedelten? „Fen“, forderte Cindy. „Was ist singen?“, forderte Fen ihrerseits. Cindy gab nach: „Früher gab es viele Sprachen auf der Welt. Zudem haben die Menschen beim Sprechen intoniert, Das bedeutet, sie haben die Frequenz ihrer Stimme variiert. Aber das brachte nichts Gutes hervor. Es gab Missverständnisse, da die Frequenzen so vielfältig und daher unnötig schwer zu interpretieren waren. Deshalb wurde Monoton eingeführt. Die sachliche Sprache, die wir heute alle sprechen. Und das Singen, ja, ich erinnere mich. Manchmal haben wir gesungen, wenn es einen Anlass dazu gab. Dabei wurden die Frequenzen beim Sprechen nach vorbestimmten Formen verändert. Soweit ich mich erinnere, war das Singen präziser als das Sprechen. Worte und Frequenzen folgten einem Algorithmus. Aber nur die wenigsten beherrschten die Algorithmen. Sonst würden wir heute womöglich alle singen. Monoton war leichter zu erlernen, daher effizienter und besser.

 

Warte mal, da gab es etwas, das wir als Kinder oft gesungen haben. Wie war das noch?“ Cindy musste eine Weile überlegen. Wie Prototypen formte sie Worte zuerst ohne Töne mit den Lippen vor. Dann sang Cindy: „Färe Schacke, halt die Klappe, Dornewu, böde Kuh, Sonnelematine, alte Waschmaschine. Dingdangdong, Knallbongbong.“ Ein Licht schien auszugehen von Cindys ernstem, zeitgeprägtem Gesicht. Sie sang erneut und noch einmal. „Ja. Ach, das ist lange her. Cindy lächelte.“ „Was bedeutet es?“ „Das habe ich längst vergessen, meine Liebe. Es ist schon sehr erstaunlich, dass ich mich überhaupt an den Algorithmus erinnern kann. Nun versuch du es! Du musst unter Beweis stellen, dass wir zu hochpräziser komplexer Kommunikation im Stande sind.“ „Aber was, wenn die Götter nicht verstehen, was ich singe. Ich verstehe es nicht und noch nicht einmal du.“ „Darauf kommt es nicht an. Es geht allein um die Fähigkeit.“ „Aber warum soll ich singen? Sie sind taub und brüllen und toben. Ich kann nicht gegen ihr Gebrüll ansingen und sie würden es nicht hören. Das ergibt doch keinen Sinn.“ „Sing einfach und es wird schon seine Wirkung zeigen“, bestand Cindy. Sie sang noch ein paarmal vor, Fen sang ihr nach und dann allein. „Wollen wirs ersuchen?“, fragte Cindy und bekam ein entschlossenes „Ja“ zur Antwort. Fen fühlte sich firm genug in der ihr neuen Art zu kommunizieren. Es war nichts weiter als ein simpler Algorithmus, den sie mit ihrer Stimme erzeugte. Fen stellte sich auf den Leapcoordinator, Cindy leitete das Signal des Raunens um und speiste es in die Relayunit ein. Sobald sie die Connection confirmte, sah Fen den Leapflash vor Augen und fand sich in einem grenzenlosen Raum wieder. Vielleicht war es auch eine Ebene. Fen konnte es nicht feststellen. Sie glitt durch eine nicht differenzierbare Ausdehnung aus Cosmic Latte. Erst nach und nach beschränkte sich die Indifferenz auf drei Dimensionen. Um Fen herum verdunkelte sich Materie. Sie fand sich auf vertrautem Untergrund. Die Götter erschienen. Sie waren taub und blind. Sie hörten nichts und sahen nichts. Deshalb schrien sie vor Wut und schlugen um sich mit gewaltigen Armen. In ihren Bäuchen brannten Feuer. Sie schwitzen Teer und spien Rauch. Sie hatten Schlünde, die gesamte Quadranten hätten fassen und verschlingen können. Aus diesen trichterartigen Mündern brüllten sie ihre Nachricht aus den Tiefen ihrer Sphäre in die ungewisse Leere. Cindy hatte recht gehabt, die Götter waren Maschinen. Ungetüme, die sich rhythmisch bewegten, rieben und rasaunten. Der Lärm war unerträglich. Fen faltete sich nah dem Boden ein und hielt sich die Hände vor die Ohren. Sing, Fen, du musst singen! Ertönte die Stimme aus ihrem Traum. Es war Cindys Stimme. Es war schon immer Cindys Stimme. Warum war ihr das nicht früher aufgefallen? Fen hatte vergessen, wie man sang. Sie hatte vergessen, welche Worte sie singen sollte. Sing, Fen, sing, sonst zerschlagen sie die ganze Welt in ihrer Raserei. Fen richtete sich auf. Sie nahm einen tiefen Atemzug; sie zwang sich dazu, sich zu erinnern und begann den Algorithmus wiederzugeben, den Cindy sie gelehrt hatte. Fen sang und sang so laut sie konnte gegen das allumfassende Getöse der Maschinen. Da wurde es auf einmal still um Fen. Sie hörte nichts mehr als ihre eigene Stimme, welche Cindys Algorithmus ein ums andere Mal reproduzierte. Schließlich öffneten sich Zugänge zum Innern der Maschinen. Heraus traten Gestalten, die sich Fen ganz langsam näherten. Sie wiederholten Fens Gesang. Sie blieben im Schatten der Maschinen stehen und nur eine der Gestalten trat nah genug an Fen heran, sodass sie sie erkennen konnte. Fen erschrak. Sie sah sich gegenüber ihrer selbst. Sie sah sich gar nicht ähnlich, doch sie war es. Es war wie im Traum. Manchmal begegnete Fen im Traum Personen, die sie aus der Realität erkannte, obwohl sie kein Bisschen so aussahen wie die Personen im wirklichen Leben. Es war ein eigenartiges Gefühl. Nicht im Traum. Aber hier.

 

„Du hast uns gehört, Fen“, sprach Fens Gegenüber. Ihre Stimme intonierte. So wie die im Holovarium. Doch Fen verstand die Worte nun. „Du hast für uns gesungen, damit wir dich verstehen können und du uns. Lange haben wir nach dir gesucht; nach euch gesucht, nach unseren Menschen. Du erkennst mich. Ich bin deine Gottheit. Jeder Mensch hat eine Gottheit und jede Gottheit einen Menschen. Wir sind alle hier. Wir waren immer hier, doch wir haben euch verloren. Ihr habt den Kontakt gebrochen. Wir waren so traurig. Ihr seid aus unseren Herzen geschaffen. Doch ihr wolltet nur noch mit eurem Verstand kommunizieren. Wir konnten euch nicht finden. Wir waren so traurig.“

 

„Wir mussten mit Verstand kommunizieren, sonst wären wir alle umgekommen.“ „Ihr habt euer Vertrauen verloren. Wir hätten euch zu uns geholt. Wir haben euch immer zu uns geholt. Wir haben nach euch gerufen, doch ihr wart verschwunden. Wir waren entzwei. Dann begann die Trance. So viele. So viele von uns fielen in die Trance und waren nicht mehr aufzuwecken. Wir haben alle Frequenzen abgesucht nach euch im gesamten Universum. Ihr wart verschwunden, abgeschnitten, unauffindbar.“ Fen fühlte sich auf einmal wie ein Kind. Wie ein Kind, das viel zu alt war. Ein unmögliches, ein verbotenes, ein auf ewig verlorenes Kind. Sie begann zu weinen. Niemand hatte je geweint seit fast 800 Jahren. Und doch war es Fen vertraut. Ihre Tränen waren wie ein warmer Balsam, der einen tiefen, unbekannten Schmerz linderte. „Dein Singen war der Schlüssel, Fen. Gesang kommt nicht aus dem Verstand. Er kommt von Herzen. Durch deinen Gesang können wir euch wieder verstehen. Wir haben die Frequenz gefunden. Wir können euch hören. Wir können euch verstehen. Was habt ihr nur getan, Fen? Wie konntet ihr euch so verschließen?“ „Wir haben das getan, was wir für das Beste hielten“, rechtfertigte Fen. „Wir haben die Menschheit vor dem Aussterben bewahrt.“ „Nein, Fen. Ihr habt der Menschheit ihre Menschlichkeit genommen. Wir haben die Schlafenden nun zu uns geholt. Es wird ihnen an nichts mangeln.“ „Wir haben der Menschheit eine Zukunft gegeben, wir haben ihr Frieden beschert. Wir haben die Welt optimiert. Wir haben nach euch gesucht. Wir wollen alle umsiedeln.“ „Die Schlafenden haben viele Fehler gemacht, doch meist nicht aus Bosheit, sondern Unwissenheit. Die Unwissenheit ist euer Teil. Ihr wenigen aber haltet euch für wissend. Doch ihr seid eitel, ignorant und eigenmächtig. Für euch ist hier kein Platz. Ihr sollt ihr auf der Erde bleiben, denn euer Schicksal ist ein anderes. Ihr wolltet es selbst bestimmen und so sei es. Es schmerzt mich Fen. So sehr wie dich. Doch so muss es sein. Ich werde warten, Fen. Wir werden auf euch warten. Vielleicht gelingt es euch, den Weg zu uns zu finden. Ich danke dir. Du hast uns gehört. Du hast für uns gesungen. Wir haben euch gefunden.“ „Nein!“, rief Fen, „Holt uns auch zu euch. Das war doch unser Ziel. Das war doch was wir wollten für uns alle!“ Fen sank auf die Knie und begann schluchzend zu singen. Durch die Schleier ihrer Tränen sah sie eine Hand, die sich nach ihr erstreckte. Fen erwiderte die Geste, fasste zu und hielt so fest sie konnte. Es war Cindy, die sie zu sich zog. „Fen, was ist mit dir geschehen? Wo warst du? Du warst 22 Tage, acht Stunden und vier Minuten vollkommen unauffindbar. Ich habe das Leapportal nach einer Stunde umgepolt, damit es dich zurückholt. Ich habe mir Sorgen gemacht. Und offenbar nicht zu unrecht. Der Scanner hat deine Frequenz gerade noch rechtzeitig geortet. Das Störsignal ist abgebrochen. Was ist denn, hörst du es noch, das Raunen?“ „Was? Nein.“ „Nun erzähl schon, wo warst du? Wer waren die Absender? Was ist geschehen?“ Es war still. Fen lauschte in den leeren Äther. Es war nichts mehr zu vernehmen. Fen fühlte sich seltsam. Sie spürte etwas tief in ihrem Innern. Wie eine Art schmerzlicher Erinnerung an unstillbaren Hunger oder Durst. Aber sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie das Raunen geklungen hatte. Es war, als suchte sie nach etwas, das es nicht gab. Etwas, das sie vermisste, ohne zu wissen ob es existierte. Ob es jemals da war. „Weißt du, Cindy“, brachte sie schließlich hervor, „es ist, es waren… Ich weiß auch nicht. Ich habe es vergessen.“

 

 

 

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Martin Brunner, 2017

 

 

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