Ich kann mich beim besten Willen nicht an den Tag erinnern, an dem meine Tochter auf die Welt kam. Keine Ahnung. Das ist doch peinlich. Das muss man als Vater doch wissen. Gut, Geburtstage kann ich mir eh schlecht merken. Namen auch nicht so gut. Gesichter dafür um so besser. Aber der Geburtstag der eigenen Tochter, das muss man sich doch merken können. Aber nein! Weder Wochentag, noch Monatstag. Jahreszeit? Jahreszahl? Fehlanzeige! Keinen blassen Schimmer. Sie müsste jetzt ungefähr elf sein. Sie hat diese seltsame Übergangshaarfarbe. Früher war sie ganz hellblond, doch langsam werden ihre wilden Strähnen dunkler. Wie ein ungemachtes Vogelnest sieht es aus auf ihrem Kopf. Sie hat grünbraune Augen und sehr prominente Augenbrauen. Aber in dem Alter ist das noch egal. Hoffe ich. Sie heißt Emma. Weil ihre Mutter das so wollte. Mir war’s egal. Ich glaube nicht daran, dass unsere Namen unseren Charakter oder unser Leben beeinflussen. Jedenfalls nicht, wenn es normale Namen sind. In den USA gibt es ja diesen Typen, der Beezow Doo-doo Zopittybop-bop-bop heißt. Der wurde bekannt nur wegen seines Namens. Aber Emma ist ja nichts, wo die Leute nachfragen müssten, wie man das schreibt. Emma hat eine Narbe am Kinn, weil sie es, als sie noch kleiner war, für eine gute Idee hielt, am Einkaufswagen rumzuturnen. Die Knie sind sowieso andauernd aufgescheuert. Emma ist ein wunderbar wildes Kind. Mir fallen hunderttausend Dinge ein, die ich über Emma weiß. Aber den Tag ihrer Geburt hab ich vergessen. Obwohl. Ich weiß noch genau wo sie geboren wurde. Das war nur zweieinhalb Meter hinter uns zwischen dem Regal für regionale Weine und dem Saftregal. Ich kann mich daran erinnern, wie ich sie in Küchenrolle eingewickelt habe. Die Frau vor uns hat das nagelneue Küchenmesser ausgepackt, dass sie sich mit ihren Treuepunkten kaufen wollte, und damit die Nabelschnur durchtrennt. Gisela hieß die Frau. Leider ist sie noch gestorben bevor sie an der Reihe war. Wir haben sie in der Kühltruhe unter einem Haufen Eis am Stiel bestattet und sind dann aufgerückt. Wahrscheinlich wusste ich damals einfach gar nicht, welcher Tag es überhaupt war. Welcher Tag ist denn heute? Welcher Monat? Welches Jahr? Keine Ahnung. Das beruhig mich jetzt irgendwie. Ich habe Emmas Geburtstag doch nicht vergessen. Konnte ich gar nicht. Weil ich ihn ja nie gewusst habe. Andererseits, was spielt das auch für eine Rolle? Ist doch egal. Wichtig ist, dass ich mich für immer daran erinnere, wo sie geboren ist. Damit ich wieder zurückfinde, wenn ich mal unterwegs war. Das haben wir auch Emma schon früh beigebracht. Die ist ja immerzu unterwegs. Als sie noch nicht sprechen konnte, hatten wir ihr ein Schild gebastelt mit Paketschnur und Weinkarton, das wir ihr umhängten. Darauf stand „Ich bin Emma und gehöre in die Schlange für Kasse drei“. Einmal hatte sie ihr Schild verloren und irrte weinend durch die Gänge. Aber ein netter Herr aus Schlange zwei hatte sie erkannt und zu uns zurückgebracht. Hier in der Schlange drei habe ich auch meine Frau kennengelernt. Sie stand hinter mir. Ich bemerkte sie erst, als sie mich antippte. Ihr sei eingefallen, dass sie vergessen hatte, die Bananen zu wiegen. Deshalb wolle sie schnell nochmal los und ob ich wohl freundlicherweise ihren Wagen mitziehen würde, falls es inzwischen voranginge an der Kasse. Sie ging ihre Bananen wiegen und kehrte zurück. Es war nicht voran gegangen. Darüber kamen wir ins Gespräch. Hätte die Kassiererin losgehen müssen, um die Bananen zu wiegen, hätte es zwei Wochen gedauert, bis sie wieder da gewesen wäre, sagte ich. Wenn das mal reiche, sagte sie. Sie habe auf ihrem Weg zur Waage die Kassiererin von Kasse eins gesehen. Die Weintrauben, die sie zum Wiegen getragen habe, seien längst zu Rosinen verschrumpelt gewesen. Wir lächelten einander verschmitzt an und es war augenblicklich um uns geschehen. Bald lud Kerstin ihren Einkauf mit in meinen Wagen. Damit war klar: wir bleiben für immer zusammen. Wenn mal wieder alle Lebensmittel im Wagen aufgegessen oder verdorben sind, zieht einer von uns los und besorgt frische Ware. Selbstverständlich heben wir alle Verpackungen und Barcodeklebeetiketten auf, um das Verzehrte in ferner Zukunft einmal zu bezahlen, wie es sich gehört. Das ist eben der Lauf der Dinge hier. Anfangs war es ungewohnt, aber inzwischen haben wir uns längst damit arrangiert. Wenn Einkäufer an der Kasse angelangen, die ihr Obst oder Gemüse nicht gewogen haben, müssen die Kassiererinnen sich jedes Mal über Wochen auf Expedition begeben. Haben Leute ihr Geld vergessen, musst ein Stornoauftrag anberaumt werden. Das nimmt bis zu 18 Monate in Anspruch. Manche zählen ein vierteljahrlang ihre Kupfermünzen aus. Ein Kartenlesegerät braucht – je nach Kreditunternehmen – zwischen sechs und zwölf Wochen für eine Transaktion. Doppelt so lang, wenn noch eine Punktekarte dazu kommt, oder eine falsche Geheimnummer eingegeben wird. Bei den allermeisten Einkäufern ist irgendwas in der Art. Darum geht es nur langsam voran. Da muss man zwischendurch eben für Nachschub sorgen. Immerhin stehen wir nun schon bei der Quengelware. Da ist Emma zum Glück schon zu alt für. Nur manchmal will sie was. Und manchmal ist ja okay. Manchmal sprechen wir auch darüber, ob wir nicht einfach den Laden verlassen sollten. Aber dann erzählt uns Emma immer wie glücklich sie hier ist mit Semra und Elias aus der Nachbarschlange. Die drei wurden eben als Schlangenmenschen geboren. Am liebsten spielen sie in ihrer Cornflakes-Schachtelburg. Manchmal klettern sie auch auf dem Raviolidosenberg herum oder kämpfen in der Eishöhle gegen Tiefkühlgemüsemonster. Und wenn Emma uns von ihren wunderbaren Abenteuern erzählt, dann sind wir glücklich, hier zu sein. Außerdem haben wir zuhause ja auch nichts im Kühlschrank.
Martin Brunner, 2020
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