Ein schönes Plätzchen im Death Valley

Am Ufer stand des alten Fährmanns langer Schatten und starrte reglos auf den weiten Fluss, wo sich die ersten leichten Fetzen eines kalten Abendnebels zeigten. Die Strömung wälzte sich wie Blei in ihrem Bett. Sie sog den Kahn des Fährmanns unaufhaltsam mit sich. Die Flammen starben rasch nachdem das frische Pech verzehrt war. Nur dicker Rauch quoll ächzend aus dem morschen Holz. Kein besonders feierlicher Anblick. Der Schatten wandte sich dem Ufer ab und glitt bedächtig in die aufsteigende Dunkelheit. Das war kein spektakuläres Ende. Aber, gut, was will man schon erwarten. Blumen etwa? Ein Ständchen? Sekt und Schnittchen? Wer hätte das gewähren sollen? Niemand war mehr da. Das Pantheon war längst erloschen. Nur den Menschen glommen Sterne zum Gedenk noch an alten Glanz. Immerhin – es war ein Ende. Rechtens oder nicht, ein Ende. Vor dem Schlund des Chaos hielt der Schatten inne. Er besann sich auf sein Ziel, versuchte sich ein klares Bild davon zu schaffen. Doch er war aus der Übung. Immer wieder kam der Kahn ihm in den Sinn. Der alte, nasse Eichenklotz mit seinen dünngesessenen Bohlen auf denen seine Passagiere eitle Hoffnung und Verzweiflung hegten, die sie mit ihren Fingernägeln kreuz und quer im Holz quittierten. All die Jahre, die Jahrtausende, dieses grässliche Klagen und Kratzen! Das Chaos aber duldet keine Ablenkung. Der Schatten konzentrierte sich. Nur ein Gedanke durfte ihn jetzt leiten, sonst würde ihn die Turbulenz zerreißen und er würde Teil des Chaos. Ein Ziel. Ein Bild. Nimbus! Nimbus! Nimbus! Dann stürzte er sich in den tosenden Abgrund.

Die Oberflächen immer in Bewegung – wie ein Rieselsturm von Wasserbleipigment in Öl – so strudelte und flimmerte die Nimbus Bar im Äther. Eine matt glühende Corona aus brennendem Orange verschmolz wie warmes Wachs mit den sich abzeichnenden Umrissen des Hauses; dreistöckig, mit Satteldach und Schornstein, aus dem roter Rauch sich kräuselte. Der Schatten trat wie aus dem Nichts heran. Im Schein der Nimbus Bar war nun der Fährmann zu erkennen. Lang war er und hager, gehüllt in ein Gewand, das an den Säumen lange, dunkle Fransen zog und streng nach Winterwäsche roch. Einst mochte er ein Greis gewesen sein oder ein Monstrum von dämonischer Gestalt. Doch das war lange her. Und es spielte keine Rolle. Hier konnte er sich sehen lassen wie er war. Die Nimbus Bar war ein exklusives Etablissement in einer sehr prekären Ebene der Existenz. Niemand unbefugtes hatte Zugang. Und niemand unbefugtes suchte diesen Ort aus freien Stücken auf. So hatte das Nimbus weder Schloss, noch Riegel, oder auch nur eine Tür, um Schloss und Riegel darin zu verankern. Ein dünner Spalt begann zu flirren in der Mauer, wie ein Migränefleck im Auge. Der Fährmann zog sich, wie es sich gehörte, die Kapuze über seinen blanken Schädel, dann trat er hinein. Drinnen floss ein warmes, helles Sonnenplasma über die Wände und Flächen. Der Schankraum vibrierte vom alldurchdringenden, tieffrequenten Duft türkischer Nelken. Der Fährmann verweilte einen tiefen Atemzug lang. Hier war ihm wohl. Unten am Fluss herrschten Dunkelheit und Zwielicht über die trostlose Ödnis und die Kälte nagte dort an ihm. Er streckte und beugte knarrend seine steifen Fingerknochen, worauf die Feuchtigkeit des Flusses, die sich zwischen den Gelenken angesammelt hatte, in kleinen Wölkchen aufwärts dampfte. Er hatte Lust auf einen Plausch. Bei der Arbeit war ihm striktes Schweigen auferlegt gewesen. Das war ihm prinzipiell ganz recht, denn redselig war er von Natur aus nie gewesen. Manchmal aber mochte er sich gerne unterhalten. Das Oberstübchen durchzulüften, damit ihm die eigenen Gedanken nicht wild wurden im Käfig und sich gegenseitig auffraßen. Der Schankraum leuchtete im angenehmen Licht des Sonnenplasmas. Divane standen hier, bezogen mit dem feinsten Tuch aus prächtigster Kometenmähne, Tische, die gefertigt waren aus der Umlaufbahn von Sternen. Doch niemand war zugegen. Allein ein anderer Gast saß an der Theke, die aus purem Hedonit gegossen war – dem Stoff, der Galaxien kreisend tanzen lässt. Ein riesenhafter Kerl saß dort. Ein Erdenkind mit Schultern wie die weiten Hügel des Peloponnes. Ein Gewand aus feiner roter Wolle hüllte sich um seinen kraftdurchströmten Körper. Neben ihm am Tresen lehnte, mächtig wie ein junger Eichenstamm, sein Stab. „Verzeihung, ist hier noch Platz?“, fragte der Fährmann höflich. Seine Stimme klang, wie ein Schwarm Hummeln in den Ohren. „Willst du damit sagen, dass ich fett bin?“, grollte der Riese aus seinem buschigen Bart hervor. „Wie meinen?“ „Na, ich bin ja wohl der Einzige hier am Tresen und du fragst mich, ob noch Platz ist.“ „Oh! Nein, das ist lediglich eine Floskel, ich wollte…“ „Aaah! Ich mach nur Spaß. Setz dich!“, lachte der Riese laut und bot begrüßend seine Hand: „Christophorus“. Der Fährmann, ein wenig verlegen, weil er den Scherz nicht gleich verstanden hatte, legte seine Knochenhand in die gewaltige Rechte des Riesen: „Angenehm. Charon.“ Er nahm Platz neben dem Hünen auf einem mit Mammutpelz bezogenen Barhocker. „Aber dich hab ich hier noch nie gesehen. Bist du neu im Geschäft?“, wollte Christophorus wissen. „Nein. Das beileibe nicht. Rund dreieinhalbtausend Jahre war ich tätig. Nun allerdings bin ich, sagen wir, im Ruhestand. Gewissermaßen. Ich habe heute meinen Kahn verbrannt.“ Christophorus` nickte anerkennend. „Ein Fuhrmann also. So wie ich. Ach, dann bist du doch wahrscheinlich bestimmt dieser alte Grieche, der mit den Münzen auf den Augen?“ Charon fand die Beschreibung weder akkurat, noch angemessen, doch er ließ es durchgehen und bejahte, in dem er seinen Kopf wie zur Begrüßung beugte. „Ja, dann sich wir ja Kollegen“, freute sich Christophorus, wobei er Charon fast das Schulterblatt zertrümmerte. „Aber ich hab keinen Kahn. Ich muss per pedes durch die trübe Brühe waten und die Klienten auf den Schultern tragen. Aber immerhin hab ich schon einige Celebrities rübergebracht.“ Charon zog seine Haube nach hinten. Ein kunterbunter Schwarm von Schmetterlingen stieg daraus empor. Unter Charons wedelnden Handknochen zertstob er sogleich in feinstes Puder, das auf seine graue Schädelplatte niederrieselte. Christophorus genoss Ambrosia in langen Zügen aus einem immmervollen Hammelhorn. Charon freilich hatte weder Haut, noch Blut, noch Eingeweide. Das war lange her. Inzwischen war er eine para-noetische Entität. Als solche wurde er im Nimbus von einer mit Intoxikantien angereicherten Atmosphäre umgeben, die er, stark vereinfacht gesagt, über die Poren seiner Knochen assimilierte und mit seinem Geist vermischte. Etwa so wie ein Saunaaufguss mit Wodka. Nur ganz anders und viel komplizierter. Jedenfalls begann die Atmosphäre offenbar bereits auf Charon zu wirken. „Zelebrites?“, fragte er etwas benommen, „ist das ein besonders ruhmreicher Kriegerstamm?“ „Klar!“, prustete Christophorus, „Krieger des Geistes! So wie du, Bruder! Mein erster Kunde war der Heiland. Der Sohn vom Chef. Aber da war der noch ein ganz kleiner Knirps. Aber schwer wie sau, sag ich dir. Das ganze Gewicht der Welt!“ Charon zog eine nichtvorhandene Augenbraue hoch: „Wie? Das glaube ich nicht. Das ist den Gesetzen nach unmöglich. Allein die Massenanziehung hätte dich zermalmt!“ „Naja, das Gewicht war auch glaub eher metaphysisch. Aber trotzdem!“ „Ah, verstehe. Ja, das ist allerdings beachtlich“, gab Charon klein bei; wenn auch nicht aus Überzeugung. „Aber immerhin, außer mir hats kein anderer Bewerber geschafft. Na ja, und seitdem bin ich hauptberuflich Psychopomp. Aber ich sag lieber Fuhrmann. Psychopomp klingt voll bescheuert.“ Charon schüttete den Kopf. Da kam er nun nicht mehr mit. Auch Christophorus schüttelte den Kopf. „Ich weiß!“, sagte er, „Seit Äonen red ich ans Marketing ran, dass sie sich was Neues überlegen. Ist doch kein Wunder, dass wir Nachwuchsmangel haben mit der Berufsbezeichnung. Aber das Management ist halt erzkonservativ. Immerhin hab ich nen neuen Kopf bekommen. Bis vor 150 Jahren hatte ich noch nen Hundekopf. Komische Mode das. „Wen setzt du denn nun über?“, wollte Charon wissen, „Berber? Ägypter? Hindus?“ Christophorus winkte ab. „Nö. Aber Christen halt.“ „Ah, sehr modern“, bemerkte Charon. „Ich erinnere mich, dass euer Jahwe uns damals einen Großteil der Kundschaft abgelaufen hat.“ „Aber Jahwe ist halt auch der einzig wahre Gott.“ „Ach, Humbug!“, protestierte Charon. Er hatte bereits eine gehörige Menge Atmosphäre assimiliert. Über seinem Schädel bildeten sich blitzende Gewitterwölkchen, die er, fahrlässig fuchtelnd, sofort pulverisierte, als er sie bemerkte. Dann fuhr er fort: „Früher war noch alles Tartaros. Karg und trostlos zwar, doch Tote sind anspruchslos. Du fährst sie über den Acheron und den Styx hinauf. Erst sind sie ängstlich, sie weinen und flehen, klagen und kratzen, dass es ganz unerträglich ist.“ Charon lief es kalt die Wirbelsäule herunter, dass seine Knochen wie ein Windspiel klapperten. „Aber nach einer Weile auf dem Stocherkahn werden sie durstig, trinken einen Schluck vom Lethe und alles ist vergessen. Du setzt sie aus und sie leben sich nach einer Weile ganz gut ein in der Unterwelt.“ „Ja, und dann kommt auf einmal Jahwe, kauft alles auf, gentrifiziert die ganze Gegend mit Wattewölkchendeko, Sonnenlichtscheinwerfern und Harfen und nennt es Himmel, hab ich Recht?“, führte Christophorus im Plapperton weiter aus und rollte mit den Augen. „Klar wollen dann alle nur noch da hin, kann sich aber auch nicht jeder leisten, darum hauen sie sich auf Erden schon gegenseitig die Köpfe ein und betrügen einander, dass es kracht.“ Christophorus blähte seine Brust und erhob seinen Zeigefinger: „Hab ich alles schon mal gehört. Aber das ist Loser-Talk. „Jahwe ist ein listiger Gott“, widersprach Charon. „Ja, ja“, fiel im Christophorus ins Wort, „er bewirbt seine VIP-Lounge, sagt aber den Menschen nicht, wie man sich den VIP-Status erwirbt. Und dann hat er sich zu allem Überfluss auch noch einen privaten Folterkeller eingerichtet, wo er diejenigen einsperrt, die gegen seine geheime Hausordnung verstoßen.“ „Das ist meines Erachtens höchst verwerflich. Dein Gott ist nichts als ein Geschäftemacher!“ Darauf musste Charon erst einmal verschnaufen, denn er spürte, dass er seine Fassung verlor. Er konnte es nicht ausstehen, seine Fassung zu verlieren. Deshalb hörte damit auf, seine Atmosphäre zu assimilieren, was ihn binnen weniger Sekunden ernüchtern ließ. Christophorus blickte etwas benebelt drein. Er roch an seinem kleinen Finger und pulte dann mit dem Fingernagel ein Stück Fleisch aus seinen Zähnen. Daraufhin trank er mehrere Minuten ohne abzusetzen.

Charon ärgerte sich noch ein wenig über Christophorus‘ Äußerungen. Nicht allein, weil sie ihm respektlos schienen. Vor allen Dingen ärgerte es ihn, dass all dies – zumindest offiziell – an ihm vorübergegangen war. Man hatte ihn nicht informiert. Man hatte ihn einfach stehen lassen am Ufer des Flusses. Es war gewiss nicht rechtens, dass er sich selbst in den Ruhestand versetzte. Doch was blieb ihm anderes übrig? All seine Anfragen blieben ohne Antwort. Charon blickte an die Decke. Mit weichen Wirbeln strömte das Sonnenplasma pausenlos in sich umher. Das beruhigte ihn. Er bemerkte ein dumpfes Rumpeln und Krachen über ihm. Oben wurde offenbar gekegelt. Hier im Schankraum saß er mit Christophorus allein. Auf einen angenehmen Plausch, wie Charon sich das vorgestellt hatte, war mit diesem ungestümen Jungspund eher nicht zu hoffen. Vielleicht musste er die Sache einfach anders angehen, dachte er bei sich.

Schließlich setzte Christophorus ab und rülpste laut: „OOOOoooorrr-bstsalat!“ „Ja und?“, lallte er dann. „Die Zeiten ännern sich halt! Das nennt sich Kundenzentrifizierung. Wer Harfen will, kriegt Harfen, wer Schläge will kriegt Schläge und wer Jungfrauen will, kriegt Jungfrauen. Wenn dein Chef sich mal mehr um die Kundenbedürfnisse gekümmert hätte, statt ständig ehezubrechen, wer weiß, dann wärsu vielleicht noch im Geschäft.“ „Pah!“, machte Charon. „Jungfrauen! Ich sage nur: rote-Beete-Saft.“ Christophorus zuckte träge mit seinen mächtigen Schultern. „Ja und? Sdochegal! Nobissness like Schobissness.“ Dann blickte er Charon verschwörerisch an, nahm ihn bei den Schlüsselbeinen und lehnte sich ganz nah an ihn heran. „Aber ich varradirwas!“, flüsterte er heiser. Caron spürte wie Christophorus‘ warmer feuchter Atem auf seinen Zähnen kondensierte. „Über kurz oder lang wird hier eh alles digitalisiert. Die Shivas könn mit ihrn tausend Händen Apps programmieren, da is allesuspät. Aber ich sag dir, in spätestens fünf bis zehn Jahrn uploaden sich die Toten selbst ins Jenseits. Und wer da nichaufzackis, sitzt dann da und versäuft das Bisschen Hades IV, was ihm bleibt. Ha! Verstehste? Hades IV!“ Christophorus lachte schallend. „Nein danke.“, sagte Charon. „Ich gehe in Rente.“ Charon dachte da an ein schönes Plätzchen im Death Valley. Sonnig, warm und knochentrocken. Das war sein Paradies. Ohne Apfelbäume. Nur Sonne, Sand und Steine. „Ja, hassu Glück!“, hauchte Christophorus mit leicht missgünstigem Unterton. Unvermittelt warf er seine Arme in die Höhe, drehte sich wieder zur Theke hin und meinte mit vorgeschobener Unterlippe: „Aber obse mich dann noch brauchen?“ „Ach, du findest bestimmt etwas, falls es wirklich soweit kommen sollte“, tröstete Charon halbherzig. „Wenn alle Stricke reißen, bringst du eben Seelen in eure Folterhölle. Dort wird sich doch niemand freiwillig einliefern.“ „Ja. Vielleicht. Mahschaun.“, antwortete Christophorus wieder etwas heiterer. „Noch issja der Sarg nich gezimmert. Außerdem könndiemich garnich feuern. Weil ich, weil ich einglich den ganzen Laden am Laufen halte.“ „Eben. Abwarten und Lethe trinken“, schlug Charon vor. Christophorus lachte abermals laut auf und schlug mit seiner Hand auf den Tresen, dass das Sonnenplasma spritzte. „Ha! Le-Tee! Dersgut! Prost!“ „Sag, wie kommt es eigentlich, dass du hier sitzen und dich betrinken kannst? Bist du nicht im Bereitschaftsdienst?“, fragte Charon. Christophorus bäumte sich im Sitzen auf, sodass er kerzengerade saß und Charon überragte ragte wie der Koloss von Rhodos. „Also erstens bin ich keineswegs betrunken“, mahnte der Riese mit erhobenem Zeigefinger, wobei er jede Silbe so scharf betonte, dass die Worte Löcher in Charons Atmosphäre schnitten. „Und zweitens ist heute Ostern. Das Fest der Auferstehung. Und da wird nicht gestorben. Hörst du nicht? Oben kegelt der Tod mit seinen Inkarnationen.“ Charon hatte auf Christophorus‘ Gürtel gestarrt, um just in dem Moment als dieser es bemerkte, den Kopf zur Decke zu wenden. „Interessant“, sagte Charon. „Das ist doch nicht interessant“, winkte Christophorus ab. Dann fummelte er an seinem Gürtel herum. „Aber hier, siehst du das hier?“, fragte er Charon und präsentierte einen Schlüssel von exquisiter Machart. Der dreieckige Griff war nahtlos eingelassen in einen Zylinder aus feinstem Messing Dieser war graviert mit komplexen Mustern und Symbolen die sich aus unzähligen Rillen, Perlen und Kerben ergaben. „Das ist interessant. Das ist nämlich der Schlüssel zur Schaltzentrale. Der macht alle Gräber auf und zu. Aber heut sind alle zu. Keiner stirbt bis ich sein Grab aufmache!“ „Müssen die Gräber denn nicht auch für die Auferstehung offenstehen?“, erkundigte sich Charon. Christophorus strich sich nachdenklich durch seinen Bart. „Na ja, doch, schon“, räumte er ein, „aber heute soll ja auch keiner auferstehen.“ „Sagtest du nicht, heute sei das Fest der Auferstehung?“ „Ach woher! Wir feiern doch die Auferstehung Gottes. Nicht die der Menschen. Das kommt doch erst viel  später, zum jüngsten Gericht.“ Charon trommelte sich mit seinen Fingerspitzen auf den Schädel. „Also keine sofortige Reinkarnation wie bei den Buddhisten?“ Christophorus schien amüsiert über Charons Unwissenheit. Das Thema schien ihn richtiggehend aufzuwecken. „I wo!“, begann er zu erläutern, „Wir lagern unsere Toten ein bis zur Apokalypse, dem jüngsten Tag, an dem Armageddon, die Schlacht des großen Tages Gottes, des Allmächtigen, Herrscher des Himmels und der Erde, beginnt. Die Toten sind die Soldaten Gottes. Zu Armageddon werden sie auferstehen, den heiligen Geist empfangen und zur Seite Gottes gegen die Mächte der Finsternis kämpfen, bis das Ende der Welt besiegelt ist. Dann bricht das Reich Gottes an. Die Ungerechten werden in die Hölle verbannt, den Gerechten an Gottes Seite aber wird ewiges Leben im Paradies zuteil.“ Daraufhin nahm Christophorus einen großen Triumphschluck aus dem Hammelhorn. „Das klingt ein wenig extrem“, bemerkte Charon. „Aber man muss halt hart durchgreifen, wenn man Resultate will“, befand Christophorus. „Ja. Vermutlich. Sag, wie kommt es eigentlich, dass sich der Schlüssel zum Reich Gottes in deiner Obhut befindet? Ist nicht Petrus euer Schlüsselmeister?“, erkundigte sich Charon so nebensächlich wie möglich. „Quatsch! Du musst ja wirklich hinter dem Mond gelebt haben die letzten zweitausend Jahre. Petrus ist der Torwächter. Ich bin der Schlüsselmeister“, klärte Christophorus auf. „Na ja, ich dachte eben, weil du doch Fährmann bist. Ist das nicht etwas zu viel Verantwortung auf deinen Schultern?“ Das traf Christophorus. Wieder machte er sich groß und spannte seine Muskeln. „Diese Schultern haben die Last der Welt getragen, mein Freund. Aber es ist ja auch nicht jeder Fuhrmann ein Simpel, der nichts kann, als auf dem Fluss hin und her zu paddeln und Totentaxi spielen.“ Ein Kuckuck trällerte über Charons Kopf und wurde augenblicklich durch das Schnippen eines knöchernen Mittelfingers pulverisiert. Da musste sich wohl doch noch ein Rest Rausch versteckt haben. Christophorus grinste. „Ach, das war doch nicht gegen dich gemeint!“, beschwor er und knuffte Charon, dass seine Rippen klirrten. Eigentlich fand er den Knochenmann ganz nett. Wenn er bloß nicht so altmodisch und dumm wäre, dachte sich Christophorus. Noch dazu war der arme arbeitslos und ganz allein. Eigentlich genau seine Zielgruppe, fand Christophorus. „Willste mal sehen?“, fragte er Charon. „Was denn?“ „Na, die Schaltzentrale!“ „Dürfen wir dort einfach so hinein?“ „Ja klar! Ich hab doch den Schlüssel. Außerdem sind wir doch Buddies, wir zwei Fuhrmänner. Ich mach dir nen Vorschlag, den du nicht ablehnen kannst. Ich führ dich einfach mal rum. Und wennde magst, kannste ja bei uns einsteigen. Ist doch besser als Nichtstun bis zum Ende aller Tage. Nimmste mir ein paar Touren ab und ich hab mehr Zeit für die Prozesssteuerung.“ Christophorus forderte mit großen Augen. „Also gut. Wenn du meinst“, willigte Charon ein.

Sie traten aus der Nimbus Bar, Christophorus setzte sich auf eine Wolke und bedeutete Charon, neben ihm Platz zu nehmen. „Gehen wir nicht durch das Chaos?“, erkundigte sich Charon. „Ganz weit hinterm Mond…“, murmelte Christophorus fast unhörbar in seinen Bart. „Nein, mein Freund. Das macht seit 2000 Jahren niemand mehr. Zu gefährlich! Heutzutage reisen wir mit Stil.“ Und schon sausten sie los. Charons Haube flatterte im Flugwind, dass es ihn beinahe von der Wolke riss. Er konnte sich gerade noch an Christophorus‘ Stab festhalten, der vorne in der Wolke steckte und als Steuerknüppel diente. Sie flogen durch milchkaffee-farbene Ebenen, hinein in den Spiralnebel der Ewigkeit, vorbei an Eden und heraus bis auf die goldenen Felder der Transzendentalität. Dort machten sie Halt und stiegen ab. Es war nichts zu sehen als das zarte Spiel des Sternenlichts auf den weiten, blanken Flächen. Und dennoch war es so tiefgründig friedvoll und unsagbar schön wie wahrscheinlich nirgends sonst in den unermesslichen Weiten aller Existenz. Christophorus zog Charon die Haube weit über den Schädel. „Aber das ist jetzt geheim für dich. Nur der Schlüsselmeister darf den Zugang kennen.“ Nach einem ungewissen Augenblick, fühlte sich Charon abwärts gleiten. Als er wieder festen Boden unter den Fußknochen hatte, führte ihn Christophorus einige Schritte. Ein weiterer Augenblick verstrich und Christophorus lüftete Charons Kapuze. Sie standen inmitten einer Kuppel, weit wie das Firmament über der Erde. Doch Sterne waren nicht zu sehen. Vielmehr fand sich über ihnen an der Decke eine Karte aller Grabstätten der Jünger Jahwes. „Schau, die rot markierten sind belegt, die grün markierten reserviert“, erklärte Christophorus und drehte sich mit einer ausschweifenden Handbewegung einmal um sich selbst. „Nach der Taufe finden unsere Klienten auch ohne Kreuz und Stein, wenn sie zum Beispiel auf dem Meeresgrund liegen, im Urwald verloren gehen oder in der Wüste verscharrt werden.“ „Was ist, wenn einer im Feuer umkommt und verbrennt?“, wollte Charon wissen. „Tja, nun, der ist dann verloren. Aber ein bisschen Schwund ist ja immer“, wiegelte Christophorus ab. „Wann ist es denn soweit? Wann beginnt Armageddon?“ „Ach, das dauert noch einige Jahrtausende. Jahwe ruht noch. Aber die Schlacht wurde schon öfter verschoben. Zuletzt 2012. Und da waren sich eigentlich alle sicher, dass Jahwe erwacht. Aber Gottes Wege…“ Charon betrachtete die leuchtenden Markierungen. So viele Tote hatte er in seiner gesamten Dienstzeit nicht gefahren. „Sind sie denn bei Bewusstsein, während ihr sie lagert? Unsere Toten schlafen nie. Sie in Gräbern einzusperren, wäre Unrecht.“ „Hmmm…“, Christophorus kraulte sich ausgiebig erst den Bart, dann seinen Hinterkopf. „Na ja. Da kenne ich mich nicht aus. Ich mache nur auf und zu. Aber auf jeden Fall sind sie leer.“ Christophorus ging zu einer Steuerkonsole. Er legte einen von mehreren hundert kleinen Schaltern um, wodurch sich die Karte an der Decke teilte und den Blick freigab auf den Raum außerhalb der Kuppel. Myriaden kleiner, heller Lichter schwebten dort ziellos umher. „Das sind die Seelen, die wir aus den Körpern extrahieren. Ist doch hübsch oder?“ „Was, wenn sie fliehen?“ „Was? Unmöglich! Gegen den Sog unseres Extraktors kommen sie nicht an. Außerdem, wo sollen sie denn hin? Ihre Körper sind doch weggesperrt und versiegelt.“ „Und was, wenn die Körper fliehen?“ Christophorus pfiff, als staunte er über etwas. „Ja, das wäre eher ein Problem. Exhumierte Körper können erst wieder frisch geweiht nach Abhaltung aller erforderlichen Rituale zurück ins Grab. Das wäre eine Heidenarbeit.“ Charons Augenhöhlen leuchteten im Licht der Seelen. Mahnend hob Christophorus den Zeigefinger: „Ohne Seelen sind die Toten nicht zu gebrauchen. Erst zur großen Schlacht empfangen sie den Geist Gottes. Ohne den würden die Toten bloß orientierungslos über die Erde wanken auf der Suche nach einem Geist, der sie erfüllt. Sie vergehen sich dann an den Lebenden und fressen das Gehirn, wie sich herausgestellt hat. Die dummen Dinger! Als würde das funktionieren! Ganz so einfach ist es nicht, die Seele zu extrahieren. Aber deshalb sperre ich sie ja auch ein. Und zum Glück können auch sie unmöglich entwischen.“ „Verstehe“, sagte Charon und tippte sich nachdenklich an den Kinnknochen. „Und wenn sie Gottes Geist erfüllt, erfüllen sie seine Befehle?“ „Ohne Wenn und Aber!“, sagte Christophorus und salutierte stramm. „Aber nach der Schlacht bekommen sie dann ihre eigenen Seelen wieder.“ „So Gott will“, ergänze Charon. Christophorus blickte streng drein. „Warum sollte er nicht wollen? Das war schließlich der Deal. Und Jahwe ist ein Ehrenmann.“ „Ja, ja, das ist zweifellos ein gutes Geschäftsmodell. Wenngleich nicht sonderlich effizient, wie mir scheint.“ „Aber allemal effizienter als eures“, bemerkte Christophorus feixend. „Das müssen abertausende von Gräbern sein“, warf Charon ein. „Es kann dir nicht gelingen, jedes augenblicklich aufzusperren, wenn Jahwe zum Kampf ruft. Es würde Jahrhunderte dauern.“ „Ach ja?“, brüskierte sich Christophorus. Er legte einen großen Hebel an der Konsole um und aus dem Boden stieg eine Säule auf mit einem großen Roten Knopf an deren Spitze. „Dann zieh dir mal das Baby hier rein!“, prahlte der Riese. „Das ist unser Boom-Button, der Kickstarter für die Apokalypse. Der öffnet alle Gräber augenblicklich und zugleich.“ Ehrfürchtig schritt Charon einmal um die Säule herum. „Beim Hades, so etwas habe ich noch nie gesehen. Das ist wahrlich beeindruckend.“ Langsam hob Charon seine knöcherne Hand und ließ sie zitternd vor Erregung über dem Boom-Button schweben. Nur einen Lidschlag lang, bevor er sie zurückzog, als sei sie ihm zu nah ans Feuer geraten. Beinahe flüsternd gab er zu: „Verzeihe meine Zweifel. Ich muss neidlos anerkennen, dass dein Gott der mächtigste ist.“ „Ja, dieses Baby überzeugt sie alle. Aber es strahlt schon eine gewaltige Macht aus, oder?“ Voller Genugtuung streckte Christophorus seinen Arm aus, um auch seine Hand das Hochgefühl der Allmacht Gottes spüren zu lassen. Da fuhr seine Pranke schneller als der Blitz hinab und betätigte den Knopf. Augenblicklich schloss sich die Kuppeldecke. Christophorus sah ungläubig zwischen seiner Hand und dem sich wieder absenkenden Knopf hin und her. Alle zuvor rot markierten Stellen auf der Karte blinken nun grün. Die Gräber waren geöffnet, die Toten wandelten auf Erden, die Apokalypse hatte begonnen. Christophorus wusste noch immer nicht so recht, wie ihm geschah. Aber Jahwe schlief doch noch! Die Toten waren unbeseelt und ohne Geist! Nichts als Zombies! „Oh, oh“, war alles, was er herausbrachte. Panisch sah er sich nach Charon um, doch der war längst verschwunden. Er lag auf einem flachen Felsen im Death Valley und ließ die Sonne seine Knochen bleichen. „Das wir dich lehren, mir die Kundschaft wegzunehmen“, dachte er zufrieden.


Martin Brunner, 2019

Back to Top