Tübingen im Oktober 2019
Neulich habe ich bei einem Glas Hopfenwasser über Dinosaurier-Pipi nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es eine ganz wunderbare Sache ist.
Es ist ja so, dass mehrere unterhaltsame Videos im Internet inzwischen bestätigt haben: Wir trinken hauptsächlich Dinosaurier-Pipi. Und das liegt am Wasserkreislauf.
Die Erdoberfläche ist zwar zu etwa 70% mit Wasser bedeckt, aber 96% davon sind ungenießbar salziges Meerwasser. Knapp 2% stecken im ewigen Eis fest, weitere knapp 2% sind Grundwasser. Nur etwa 0.1% ist als verfügbares Trinkwasser im Umlauf. Das ist immer noch eine ganze Menge, nämlich ungefähr 500.000km3. Sagen die Videos.
Allerdings sind Wassermoleküle scheints relativ groß. Das bedeutet, es gibt gar nicht sooo viele davon, wie man es auf den ersten Blick vermuten würde. Klar hängen da trotzdem mehr Nullen dran, als ich zählen kann, aber das ist ja Wurscht.
Jedenfalls spielt der Faktor Zeit offenbar ebenfalls eine entscheidende Rolle. Weil das ja auch dauern kann, bis genau das eine Molekül von der Meeresoberfläche verdunstet, es im Wolkenverbund bis übers Festland schafft, als Niederschlagsspartikelchen nicht auf festem Boden, sondern in einem Süßgewässer landet, und sich ausgerechnet dann an der Oberfläche und genau in den paar Quadratzentimetern einer Tränke rumtreibt, dass es ein Dino trinkt. Mega unwahrscheinlich eigentlich.
Aber die Dinosaurier hatten halt auch 200 Millionen Jahre Zeit auf der Erde und einen enormen Durst. Genug Zeit und genug Durst, dass jedes Wassermolekül in einem Glas Trinkwasser, das wir uns heute zur Erfrischung gönnen, wohl tatsächlich früher oder später von einem Dino getrunken und auch wieder ausgepinkelt wurde. Soweit die Videos.
Das klingt ja erstmal nicht so appetitlich. Und da hören die Videos dann auch meistens auf. So nach dem Motto „Haha, ihr trinkt Dino-Pipi!“
Aber wenn man die Sache mal weiterdenkt, ergeben sich daraus ganz andere, viel weitreichendere Konsequenzen.
Es ist ja nun auch so, dass Wasser nicht nur getrunken und ausgepinkelt wird. Pflanzen und Tiere bestehen ja auch größtenteils aus Wasser. Ein Lebewesen scheidet also weniger Wasser aus, als es aufnimmt. Und wenn es das Zeitliche segnet, gelangen die Wassermoleküle, die Teil des Lebewesens waren ja auch wieder in den Kreislauf.
Das mag zwar prozentual ein verschwindend geringer Teil sein, aber auf lange, also wirklich laaaange, Zeit betrachtet, ist es doch so, dass im Prinzip jedes Lebewesen, wenn es Feuchtigkeit aufnimmt, Moleküle von einem anderen Lebewesen aufnimmt. Und wenn diese nicht ausgepinkelt werden, werden sie, zumindest für eine Zeit lang, Teil des Lebewesens.
Wenn ich also ein Glas Wasser trinke, trinke ich nicht nur Dino-Pipi, sondern werde möglicherweise auch zum Teil Dinosaurier. Oder Pfütze. Oder Farn. Oder Wüstenrennmaus. Oder der chinesische Bauer aus dem 3. Jahrhundert vor Christus. Oder meine Nachbarin, die vor drei Wochen gestorben ist. Und die alle sind dann ein Teil von mir.
Klar ist das statistisch unbedeutend. Aber prinzipiell ist der Wasserkreislauf ein prima Beispiel dafür, dass wir alle Teil eines Ganzen sind und diese blöde Identitätsbrustklopferei, die gerade wieder vermehrt um sich greift, im Hinblick auf die menschliche Existenz im Allgemeinen und die persönliche Lebensspanne im Speziellen, nichts als viel zu kurz gedachter Quatsch ist.
Wer sich ernsthaft auf seine Identität rückbesinnen möchte, muss eigentlich zu dem Schluss kommen, dass, da am Ende des Gedankens nichts besonders Distinguiertes zu finden ist. Alles andere ist vorsätzliche Rückbeunsinnung. Das fiel mir also ein und darauf trank ich dann noch einen Schluck feinherbes Dino-Pipi.