Vor einem großen Walde wohnte einst ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern; das Bübchen hieß Hänsel und das Mädchen Gretel. Da sich die Menschen im Lande nur mehr billige Möbel und Einrichtungsgegenstände in die Häuser stellten, war der Tisch bei Holzhackers stets spärlich nur gedeckt. Hänsel und Gretel aber wollten täglich Gesottenes und Gebratenes. „Gretel“, sprach Hänsel eines Nachts zu seinem Schwesterlein, „lass und abhauen. Unsere Losereltern bekommens doch nicht auf die Reihe.“ So schnitzten sie im Mondlicht eine Nachricht in die Haustür und machten sich heimlich davon. Den Eltern aber brach das Herz, als sie am nächsten Morgen bemerkten, dass ihre Kinder weggelaufen waren. Als sie die Nachricht las, brach Mutter vor Leid zusammen und starb, denn auf der Haustür stand: „Eure Armut kotzt uns an!“
Die Geschwister aber liefen immer tiefer in den Wald hinein, bis sie zu einem Häuschen gelangten, das ganz aus Zuckerwerk gebaut war. Hänsel riss sich ein großes Stück aus dem Dach davon herunter, und Gretel hebelte mit einem Ast eine ganze runde Fensterscheibe heraus und knusperte daran. Da rief eine dünne Stimme aus der Stube heraus: „Knusper, knusper, knäuschen, wer knuspert an meinem Häuschen?“ Die Kinder logen dreist: „Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“, und schlugen sich weiter die Bäuche voll. Da ging auf einmal die Tür auf und eine uralte Frau mit einer Katze auf der Schulter kam heraus. „Ei, ihr lieben Kinder, esst doch nicht mein Dach, damit der Regen mir ins Häuschen fällt; und knuspert nicht meine Fenster, damit der kalte Wind ins Häuschen bläst und mich erfrieren lässt.“ Sie fasste beide an der Hand und führte sie in ihr Häuschen. Da ward ein gutes Essen aufgetragen: Milch und Pfannkuchen mit Zucker, Äpfel und Nüsse. Doch die Kinder verschmähten, was die Alte liebevoll bereitet hatte: „Wir wollen Rostbraten mit Spätzle! Wir wollen Schnitzel mit Pommes! Wir wollen Salamipizza!“, riefen sie. „Gib uns was wir wollen oder wir drehen deiner Katze den Hals um!“, drohten sie, schnappten die Katze und stießen die arme alte Frau gegen den heißen Ofen, dass sie sich die Schulter brannte.
Viele Tage blieben die Kinder bei der Alten und drangsalierten sie. Ihre gesamte Rente musste sie hergeben, um immer ausgefallenere Leckerbissen für die Kinder zu bereiten. „Ihr werdet fett und ungesund, wenn ihr so weiter esst“, ermahnte sie die Geschwister. Hänsel aber hielt ihr einen Hühnerknochen hin und sagte: „Laber keinen Bullshit, wir sind mager wie die Supermodels, hier, fühl mal meinen Finger.“ Die alte Frau sah nicht mehr so gut, so fiel sie auf den Trick herein. Eines Tages aber griff sie etwas zu fest zu und hielt plötzlich den Knochen in der Hand. Zuerst war sie ganz erschrocken und dachte, sie hätte Hänsel einen Finger ausgerissen. Doch dann bemerkte sie die List und schimpfte Hänsel einen Frechdachs. Da tobte der Bub. „Ich bin nicht frech, ich bin hochmütig. Ich bin der Furz der Welt!“, schrie er, lief erbost zum Ofen und riss die Tür auf. Gretel aber stieß mit Schwung die alte Frau ins Feuer, wo sie unter unsäglichen Schmerzen verbrannte. Der armen Katze drückten die Kinder Steine in den Schlund und ersäuften sie im Brunnen.
Dann packten sie alles Wertvolle aus dem Häuschen in ein Bündel und machten sich auf den Weg zurück zu ihrem Elternhaus. Ihr gramgebeugter Vater sah sie kommen und eilte ihnen entgegen, um sie zu herzen. Sie aber schlugen ihn mit Stöcken, banden ihm die Hände und brachten ihn ins Armenhaus, wo er alsbald verstarb. Sie investierten in Hackschnitzel und machten Millionen. Die elterliche Hütte rissen sie ab und bauten einen Palast aus Gold und Zuckerbrot. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute dort.
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Martin Brunner, 2015