Der Wolf im Blümchenkleid – Rotkäppchen mal anders

Es war einmal, vor langer Zeit, da lebte in einem wunderschönen, grünen Wald ein großer, starker Wolf. Tag für Tag durchstreifte er den Wald, um krankes oder altes Wild für seine Familie zu erlegen. Er hatte eine liebevolle Frau und vier wunderhübsche, sammetweiche Welpen. Alle Tiere des Waldes achteten den Wolf und fürchteten sich nicht vor ihm. Den Kranken und den Schwachen sparte er ein langes Leid und tötete auch nie ein Tier zum Scherz.

Eines Tages begegnete er einem Mädchen mit einem roten Käppchen auf dem Kopf und einem Korb voller Leckereien unter dem Arm, das ganz allein den Pfad entlang kam. „Einen wunderschönen guten Tag wünsche ich dir, Rotkäppchen. Wohin des Wegs so ganz allein im Wald? Soll ich dich vielleicht ein Stück begleiten, damit du dich nicht fürchten musst? Nicht dass du dem kurzlaunigen Meister Petz in die Klauen gerätst“, fragte der Wolf freundlich.

„Alda verpiss dich ey! Das geht dich‘n Scheißdreck an, wo ich hingeh, du Spaten! Stress mich nicht dumm an, sonst reiß ich dir die Eier ab und stopf sie dir ins Maul du perverser Tiefwichser ey, du Waldscheißer, alda!“, entgegnete das Rotkäppchen unwirrsch.

Der arme Wolf wusste gar nicht, wie ihm geschah.

Da war man höflich und nett zu den Leuten und es wurde einem mit nichts gedankt als Schimpf und Schande. Ganz in Gedanken versunken und recht bestürzt ob der Garstigkeit des jungen Dinges, fand sich der Wolf unversehens mitten auf einer Lichtung vor einem kleinen Haus. Aus dem Inneren des Hauses aber klang entsetzliches Jammern und Wehklagen. Der Wolf klopfte an und trat hinein, um nach dem Rechten zu sehen und Hilfe zu leisten. Ein altes Mütterlein saß dort in einem Schaukelstuhl aus schönem Tannenholz und weinte bitterlich. „Aber Mütterlein, was weinst du so? Plagt dich eine Pein? Hat dir wer ein Leids getan?“, erkundigte sich der Wolf. Da sprang das Mütterlein blitzgeschwind aus seinem Schaukelstuhl und richtete eine Doppelflinte auf des Wolfes feuchte Nase. „Ins Bett!“, befahl sie ihm und deutete mit dem Kopf. Der Wolf war recht verdattert, doch es blieb ihm wohl oder übel nichts anderes übrig, als sich ins Bett zu legen. Das Mütterchen entkleidete sich einhändig, stets die Waffe auf den Wolf gerichtet. Sie warf ihm ihre Sachen zu und befahl ihm, diese anzulegen. Dann verbarg sie ihren dürren, welken Körper hinter einem Vorhang auf der Seite ihres Himmelbetts, in welchem nun der Wolf in Hemd und Haube lag. „Tu genau, was ich dir sage, dann passiert dir nichts“, flüsterte das Mütterlein aus dem Versteck.

Da sprang auch schon das Rotkäppchen zur Tür hinein und rief: „Hey Oma, was geht? Schon wieder voll am rumfaulen oder was? Alda, alt sein is schon voll scheiße ey. Mam hat mir ne Pulle Wein mitgegeben, hab ich aber schon leer gezogen mit Blauhäubchen.    Alda, was geht denn, wie siehst du aus, Mann? Was hast du für große Augen, alda?“ „Damit ich dich besser sehen kann“, wiederholte der Wolf, was ihm die Großmutter vorflüsterte. „Aba alda, die Ohren von dir sind doch nich normal ey!“ „Damit ich dich besser hören kann“, entgegnete der Wolf. „Aber was du für ekelhafte Zähne hast, alda, geht mal gar nicht klar!“ „Da… damit… DAMIT ICH DICH BESSER FRESSEN KANN!“ rief der arme Wolf, sprang mit einem Satz aus dem Bett und musste das Rotkäppchen mit Haut und Haar verschlingen, obschon er Menschenfleisch nicht ausstehen konnte.

Es würgte ihn bei dem Gedanken, was ein verdorbenes Stück Fleisch er nun im Magen hatte, doch das nackte Mütterlein drohte immer noch mit dem Gewehr. „Bin ich das undankbare Balg los. Schade nur um dich, Wolf. Du warst halt einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Normalerweise kommt der Bär vorbei um diese Stunde. Tja, tut mir leid, aber ich bin sicher, der Jäger wird gleich da sein. Das Gör hat ihm bestimmt schon eine dieser WhattsApps geschickt und du kannst gewiss sein, dass sich gerade hunderte Märchenwaldbewohner auf fairybook und Finstergram dein Mageninneres anschauen. Aber keine Sorge, der Jäger macht kurzen Prozess und um deine Familie kümmere ich mich“, sagte das Mütterlein. Dann kicherte es böse und streichelte verheißungsvoll über die Flinte. Das arglistige alte Weib hatte vollkommen den Verstand verloren. Der verzweifelte Wolf machte einen Satz und verschlang in seiner Notwehr auch die Großmutter am Stück. Dann wollte er so schnell er konnte fliehen, doch sein Bauch war viel zu voll. Der Wolf brach ohnmächtig zusammen.

Der Jäger aber fand ihn vor und schnitt ihm seinen Bauch auf. Rotkäppchen und die Großmutter schimpften mit hässlichen Worten über den Wolf, nachdem sie befreit waren. Die Großmutter schlug schließlich vor, ihm den Bauch mit großen, schweren Wackersteinen zu füllen und ihn wieder zu vernähen und so geschah es auch. Dann versteckten sie sich, bis der Wolf erwachte. So schnell er nur konnte schleppte dieser sich hinaus zur Tür und fort vom Haus. Nur am Brunnen machte er rasch Halt, um einen Schluck zu trinken.  „Diese grässlichen Menschen liegen mir im Bauch wie Wackersteine“, dachte er bei sich. Doch als er sich vornüber beugte, um zu trinken, verlor er das Gleichgewicht und fiel in den Brunnen, wo er elendig ertrinken musste. Der Jäger aber, die Großmutter und das Rotkäppchen lachten laut und spotteten dem Wolf noch, bis ihn auch die letzte Kraft verließ in seinem Todeskampf. Dann machten sie sich auf und ermordeten des Wolfs Familie.

 

 

 

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Martin Brunner, 2015

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